'Splendid isolation' oder aktiver Literaturaustausch?

Schlaglichter auf die deutsch-englischen Kulturbeziehungen

Von Martin KuesterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Kuester

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über sechzig Prozent der Briten, so konnte man im Februar 2001 in der englischen Tageszeitung "The Guardian" lesen, beherrschen keine Fremdsprache, und damit steht Großbritannien im europäischen Durchschnitt an letzter Stelle. Heißt das, auf die Situation fremdsprachlicher Literatur übertragen, dass in England auch die kontinentale und insbesondere die deutsche Literatur nicht rezipiert wird? Und - ehe man auf dem Kontinent überheblich wird - wie steht es mit der Rezeption englischer Literatur in deutschen Landen?

Mit solchen Fragen beschäftigt sich der vorliegende Band aus der bei Rodopi in Amsterdam erscheinenden Reihe "Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft". Er befasst sich von anglistischer, germanistischer und komparatistischer Warte aus mit deutsch-englischen Literaturbeziehungen (oder korrekter: mit den Beziehungen zwischen den deutsch- und englischsprachigen Literaturen), wie sie sich im Laufe der letzten drei Jahrhunderte ergeben haben, sei es auf intertextueller oder auf biographischer Ebene. Die Beiträge, die auf Vorträgen deutscher und britischer Literaturwissenschaftler beruhen, die 1997 auf einer Konferenz an der University of Leeds gehalten wurden, sind zum Teil in deutscher, zum Teil in englischer Sprache abgedruckt und werden von einer Zusammenfassung in der jeweilig anderen Sprache eingeleitet. Während die ersten vier Beiträge sich der Literatur des 18. Jahrhunderts widmen, befasst sich eine größere Anzahl (11) mit dem 19. Jahrhundert, und der letzte, umfangreichste Teil des Bandes konzentriert sich auf das 20. Jahrhundert (16 Beiträge). Das Buch ist nicht nur aufgrund von fast fünfhundert eng bedruckten Seiten gewichtig, sondern vermag auch durch Qualität und Aktualität vieler der über dreißig Beiträge zu beeindrucken. Wenn sich auch kein Leser von vorne bis hinten durch die ganze Sammlung von Aufsätzen hindurcharbeiten wird, so werden doch viele Interessantes, Neues und Anregendes finden.

Einerseits steht das Fortwirken britischer Texte in Deutschland bzw. der Einfluss deutscher Romane auf britische im Vordergrund; andererseits gehen die Beiträger auch auf persönliche Erfahrungen ein, die Autoren und Autorinnen im jeweilig anderen Land machten und die in literarischen Werken und der Art ihrer Rezeption ihren Ausdruck gefunden haben, wenn man zum Beispiel im Großbritannien der nachnapoleonischen Zeit Deutschland als "The Sphinx of the European World" ansieht (M. Howard) oder mit Fanny Lewald die Engländer als kühl, höflich und effizient charakterisiert (C. Ujma).

Die Beiträge zum 18. Jahrhundert beschäftigen sich mit der deutschen Rezeption von Klassikern wie Jonathan Swift (H. J. Real) und Samuel Richardson (A. Krake) - u. a. auch durch Goethes Schwester Cornelia (G. Bär). Ein faszinierendes Beispiel für die komplexen literarischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert liefern vor allem die Aufsätze zum historischen und zum Schauerroman (u. a. D. Hall). Wie man erfährt, laufen die deutsch-englischen Kontakte zum Teil über das Französische als Mittlersprache ab, und mitunter scheuen Autoren das Plagiat ebenso wenig wie den Trick, ihre Texte als Übersetzungen von in der Realität gar nicht existierenden fremdsprachlichen Originalen auszugeben. Wie es kaum anders zu erwarten ist, taucht hier neben "Monk" Lewis - in seinem Verhältnis zu Kleist (F. Bridgham) - der Name Sir Walter Scotts gleich in mehreren Beiträgen auf, sei es im Zusammenhang mit E. T. A. Hoffmann (H. Steinecke), mit Immermann (P. Hasubek) oder Conrad Ferdinand Meyer (M. Andermatt). Auch Beiträge über Dickens und Freytag (S. Stark) sowie die "produktive" Rezeption Charlotte Brontës (N. Bachleitner) fehlen nicht.

In der entgegengesetzten Richtung, also von Deutschland nach Großbritannien hin, wirkten bei uns kaum erfolgreiche Schauerromane wie die Wilhelm Meinholds, die auf der Insel zu Kultbüchern wurden und deren Einfluss sich gar noch im Werk Oscar Wildes zeigt (P. Bridgwater). Gleichermaßen deckt ein Beitrag auch deutsche Spuren in Bram Stokers Gruselklassiker "Dracula" auf (D. Milburn).

Aus der Position des Rezensenten heraus ist Rosemary Ashtons Studie zur Figur des deutschen Professors im englischen Roman des 19. Jahrhunderts (gelehrt, kauzig, der Ironie nur sehr bedingt fähig) sehr aufschlussreich und weist voraus auf die im späteren Teil des Sammelbandes behandelten Universitätsromane englischer und deutscher Provenienz, wobei Osman Durrani im bekanntesten deutschen Beispiel, Schwanitz' "Der Campus", eine bisher kaum beachtete politische Ebene entdeckt.

Die Beiträge zur Literatur des 20. Jahrhunderts decken ein weites Feld ab von Betrachtungen der überraschenden "paradoxical affinities" zwischen Chesterton und Nietzsche (E. Schenkel) sowie der Dekonstruktion nationaler Charakteristika in Wyndham Lewis' "Tarr" (A. Kramer) bis hin zu Überlegungen zur (beängstigend geringen bzw. immer weniger kanonbedingten) Präsenz deutscher bzw. englischsprachiger Literatur im jeweilig anderen Schulsystem (A. Petruschke-Abramovici, G. Chambers). Es ist nicht überraschend, dass in den Untersuchungen die beiden Weltkriege - verständlicherweise vor allem im britischen Deutschlandbild - eine wichtige Rolle spielen, sei es in dem den Deutschen gegenüber überraschend positiv eingestellten Ersten-Weltkriegs-Roman "The Woman of Knockaloe" von Hall Caine (P. Skrine), in Harald Husemanns Darstellung zum Thema der britischen Furcht vor einer deutschen Invasion anhand von alternativen Geschichtsdystopien oder in J. M. Ritchies Studie zur deutschen und österreichischen Exilliteratur in Großbritannien. Der Einfluss von James Joyce wird genauso studiert (A. Bucher) wie das sowohl in der britischen wie der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder auftauchende Motiv des kleinen Mannes (H. Klein).

Was die Gegenwartsliteratur betrifft, so studiert Joachim Schwend den frühen Roman "Out of the Shelter" von David Lodge, der auf einer Reise beruht, die Lodge in der Nachkriegszeit nach Deutschland unternommen hatte, und in dem sein Protagonist traditionell überlieferte stereotype Vorstellungen über Deutschland anhand der Realität überprüfen kann und muss. Ute Dapprich-Barrett findet Parallelen in der magisch-realistischen Darstellungsweise der Engländerin Angela Carter und der DDR-Autorin Irmtraud Morgner.

Während im 19. Jahrhundert der historische Roman Sir Walter Scotts zum einen von deutschen Vorläufern beeinflusst wurde und dann seinerseits in Deutschland weiter wirkte, ergeben sich, wie David Horrocks und David A. Green in Bezug auf Grass und Rushdie sowie Sabine Hotho in Bezug auf eine Reihe anderer Autoren zeigen, ebenso Parallelen zwischen dem eher experimentellen Umgang mit der Geschichte im zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Roman. Auch im 20. Jahrhundert greifen zudem Autoren wie John Banville, so zeigt Gundula Sharman, durchaus noch auf Erzählmodelle und Strukturen der deutschen Klassik zurück.

Die Aufsätze dieser umfangreichen Sammlung wird kaum jemand alle lesen können und wollen, doch wird der Band den meisten Lesern, seien sie Anglisten, Germanisten oder Komparatisten, eine Fülle von Informationen, Anregungen und Ideen liefern. Das Buch ist äußerst anregend und sollte in jeder größeren Bibliothek vorhanden sein. Ganz so schlecht, wie es der am Anfang angesprochene Artikel im "Guardian" glauben machen konnte, steht es wohl um die deutsch-englischen Literaturbeziehungen noch nicht. Die am Ende des Bandes positionierten Aufsätze zur Situation in den Schulen zeigen jedoch, dass es falsch wäre, sich auf den Lorbeeren einer eindrucksvollen Bestandsaufnahme auszuruhen.

Titelbild

Susanne Stark (Hg.): The Novel in Anglo-German Context. Cultural Cross-Currents and Affinities.
Rodopi Verlag, Amsterdam/Atlanta 2000.
466 Seiten, 81,80 EUR.
ISBN-10: 9042006986

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