Der Blick zurück

Zeitzeugen erzählen aus hundert Jahren deutscher Geschichte

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es muss eine wahre Erinnerungsflut gewesen sein, die da über Inge Kurtz und Jürgen Geers hereingebrochen ist: "Unter dem Gras darüber" heißt das Projekt einer Originalton-Collage im Hörfunk. Das Tonmaterial, auf nahezu 900 Minuten geschnitten, ist jetzt auf 10 Cassetten im HörVerlag erschienen. 15 Stunden, in denen Menschen zu Wort kommen, die mit Deutschland auf sehr unterschiedliche Art verbunden sind. Zeitzeugen sind es, die ihre Biographien ausbreiten, und die Faszination der alten Stimmen weckt gleich zu Beginn Erinnerungen an Geschichtsstunden bei den eigenen Großeltern. Erzählt wird vom Leben im Kaiserreich bis zum Fall der Mauer - hauptsächlich jedoch von den beiden Kriegen, mit dem großen Schwerpunkt auf der Zeit des Nationalsozialismus. Erstaunlich klar ist die Sprache der Erzähler: die meisten sind über achtzig Jahre alt. Und unglaublich präzise erinnern sie sich an Daten, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen.

Sehr behutsam wurden die Stimmen in der Bearbeitung aneinander gefügt; Erzählpausen bleiben, und die unterschiedlichen Interviewsituationen dürfen gehört werden: das Hallen eines gerückten Stuhls, das Hin- und Weglehnen vom Mikrophon. Quer durch Deutschland verläuft die Reihe der Interviews, wie die verschiedenen Mundarten verraten. Die Erinnerungen sind nicht streng chronologisch gefasst, die Themen fließen ineinaner: Politik, Geschlechterverhältnis (sowohl Adel - Mittelstand - Unterschicht als auch männlich - weiblich), die Institution Familie, die Jugend. Manche Menschen stellen sich namentlich vor, andere bleiben ungenannt. Ein 44-seitiges Booklet stellt stellvertretend 16 der interviewten Zeitzeugen mit Photo und kurzem Lebenslauf vor. Die restlichen Interviewpartner werden mit Namen aufgelistet.

Fesselnd, komisch, humorvoll und erstaunlich offen erzählen die Interviewten - darunter bekannte Namen wie Max Mannheimer, der sich der Aufklärung über die Zeit der Konzentrationslager verschrieben hat. Manche Erzähler schließt man regelrecht ins Herz - so etwa eine Protagonistin, die uns durch weite Strecken der Geschichte begleitet. Man erfährt, mit welchen Mühen sie ihren Sohn durch den Krieg bringt, und eben diesem Sohn begegnet man später als Hippie wieder. Drei Fünftel der gesamten Laufzeit sind jedoch den Erinnerungen der NS-Zeit gewidmet. Die Gewichtung ist nachvollziehbar, denn die Erinnerungen scheinen hier kaum ein Ende zu finden. Zu Wort kommen alle Beteiligten am Krieg: Soldaten und Russland-Heimkehrer, eine Krankenschwester im Konzentrationslager neben jüdischen Emigranten und politisch Verfolgten, die ihre gesamten Familien auf der Flucht verloren haben. Die unmittelbare Nähe der Erzählungen offenbart eine schaurige Ambivalenz: zum einen scheint hier eine späte Aussprache stattzufinden, zwischen Jägern und Gejagten. Zum anderen überfällt den Hörer immer wieder Entsetzen: Neben Schilderungen erlebter Folter durch SS und SA wirkt der lapidare Kommentar eines Soldaten, zu der Zeit sei man nun mal nicht zimperlich miteinander umgegangen, haarsträubend. Von der Vernichtung ganzer Familienstämme, von Verfolgung, Krankheit und Folter hört man über 300 Minuten lang - und irgendwann passiert genau das, wovor sich der Hörer gefürchtet hat und wofür er sich schämt: Er schaltet ab. Dem Grauen wird der sprichwörtliche Riegel vorgeschoben.

Der spannendere, abschließende Teil der Collage umfasst die letzten 15 Jahre unserer Vergangenheit: Leben im geteilten Berlin, die letzten Jahre der DDR, der Mauerfall und das Leben danach. Personen aus Ost und West äußern ihre Befangenheit, ihre Ängste und ihre Freude über die Vereinigung.

Mit dem "Hörspielpreis der Kriegsblinden" wurde "Unter dem Gras darüber", dieses Mammutwerk einer Originalton-Collage, im letzten Jahr gewürdigt. Seine Erstausstrahlung erfuhr das Hörstück im Kultursender des Hessischen Rundfunks. Jedoch: das vorliegende Format, 10 Toncassetten in einer Box, ist dem Stück nicht gewachsen. Eine inhaltliche Strukturierung fehlt: Die Cassetten sind zwar nummeriert geordnet, doch entspricht dieser Ordnung keine thematische Gliederung. Erzählungen brechen aus dem trivialen Grund ab, dass das Tonband zu Ende ist. Diese Einschnitte stören - sie entziehen den Hörer gewaltsam dem Bann der Stimmen. An anderer Stelle fehlen sie: so gibt es keine Orientierungshilfen auf den Cassetten oder im Booklet, weder inhaltliche noch zeitliche. In vorliegender Form können kaum einzelne Stellen nochmals gezielt gehört werden. Eine Präsentation auf CD wäre dem Material sicherlich angemessener gewesen. Sie hätte es auch ermöglicht, zeitliche oder thematische Inhalte zusammenzufassen und untereinander abzugrenzen.

Trotzdem: dieses Hörspiel hat seinen Platz in der Erinnerung gefunden. Momente, in denen alte Männer die Fassung verlieren und in Tränen ausbrechen, bringen den Hörer selbst zur Verzweiflung, weil er nicht trösten kann. Das Stück hat seinen Dienst wohl nicht nur am Hörer getan: Erzählen ist heilsam, möchte man der abschließenden Bemerkung eines alten Mannes am Ende des Hörspiels entnehmen: "Wir sitzen auf unseren Erinnerungen wie auf nicht abgeholten Gepäckstücken". Man hofft inständig, dieses Projekt möge den Protagonisten ein Stück ihrer Last abgenommen haben - so wie es uns um ein großes Stück Erinnerung bereichert hat.

Titelbild

Inge Kurtz / Jürgen Geers: Unter dem Gras darüber. 10 Cassetten. Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland. Zeitzeugen erzählen aus ihrem Leben. Originalton-Collage. ca. 894 Minuten.
Der Hörverlag, München 2000.
894 Minuten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3895841838

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