Das Fehlen bürgerlicher Privatsphäre

Sebastian Haffners Geschichte eines Deutschen

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir wissen es längst, dass nicht alle Deutsche dem Rattenfänger Hitler auf den Leim gehen mussten und dass die meisten lügen, wenn sie behaupten, dass man nicht hätte ahnen können, wohin sie der "Führer" am Ende befehlen würde. Sebastian Haffner jedenfalls hat es gewusst und beizeiten darüber geschrieben. Er hat seine Beamtenstelle als Jurist aufgegeben und ist seiner jüdischen Freundin ins Exil nach England gefolgt. 1939 hat der 32-Jährige Rückschau gehalten auf sein Leben und darauf, wie alles kommen konnte. Deshalb beginnen seine Erinnerungen auch mit dem Jahr 1914, dem Kriegsausbruch, dem Ereignis, das er als Erstes bewusst erinnert. In der Generation der zwischen 1900 und 1910 Geborenen, also in seiner eigenen, sieht Haffner die wichtigste Gefolgschaft der Nationalsozialisten. Diese These begründet er ganz aus subjektiver Sicht und mit der bei ihm später so ausgeprägten und geschätzten Zuspitzung. Denn diese Generation habe die völlig irreführende Kriegspropaganda des Kaiserreiches nicht durchschauen können. Die bekannten Mythen (vom "Dolchstoß" bis zum "Im Felde unbesiegt") konnten daher das politische Bewusstsein dieser Jugend entscheidend prägen. Eindrucksvoll schildert Haffner dann auch das Krisenjahr 1923. Die Inflation habe die Deutschen zu Spielern gemacht, die jedes Vertrauen in die staatliche Lenkung verloren hätten und bereit gewesen wären, für vage Versprechungen alles zu riskieren. Haffner schildert die ersten Jahre der Diktatur und wie sich die bislang republikanischen Staatsorgane ohne Not und Zwang den neuen Herren unterwarfen. In vielen Situationen muss er selbst erkennen, dass die Zivilcourage dem alten Untertanengeist gewichen ist. So berichtet er aus unmittelbarem Erleben von jener "Revolution, die sich nicht gegen irgendeine Staatsverfassung, sondern die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde" richtete.

Haffner hat seine Erinnerungen, die deutlich für England geschrieben worden sind, dort nicht veröffentlicht, vielleicht weil sie ihm nicht objektiv genug erschienen. Tatsächlich sind sie mehr als nur eine brillante historische Analyse; sie entfalten erzählerisch das Tableau der Bürgerkriegsepoche, so dass das Debüt des großen Journalisten zugleich sein literarisches Meisterwerk ist. Zugleich greift er essayistisch in die Auseinandersetzung der Brüder Mann um die Unterschiede zwischen Zivilisation und Kultur ein. Er erkennt, dass den Deutschen die Fähigkeit zur bürgerlichen Privatsphäre fehlt, zum stabilen Selbstbewusstsein, in dem er das entscheidende Merkmal einer demokratischen Zivilisation sieht. Diese Pointe macht Haffners Buch nicht nur zur Darstellung einer längst vergangenen Zeit, sondern zugleich zum Bedenkbuch und zur Warnung für die Gegenwart.

Titelbild

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000.
200 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421054096

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