Der heilige Georg als Triebtäter

Verena Auffermanns eigenwillige Kunstessays

Von Nadja ÖhrleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadja Öhrlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verena Auffermann wählt in ihrer ungewöhnlichen Essaysammlung "Das geöffnete Kleid" eine Rahmenhandlung, um den Leser in die geheimnisvolle Welt der Kunst und der Kunstgeschichte zu entführen: Die junge Kunstgeschichte-Studentin Hannah macht sich auf die Reise durch verschiedene Museen, um berühmte Gemälde besser zu verstehen - sie möchte wissen, was dargestellt ist, und begreifen, warum die Künstler es so dargestellt haben. Hannah glaubt nach ihrem Besuch in Museen und Galerien in New York und Washington, dass der Zweck der Kunst letztlich in Folgendem besteht: "Wer sucht, findet in den Bildern sich selbst." Sie vernachlässigt dabei eine wesentliche Voraussetzung dazu: Man muss die Gemälde erst einmal genau betrachten, um zuerst sie zu verstehen. Nur durch genaues Hinsehen erschließen sich Gemälde - eigene Erfahrungen, das Wissen um das Zeitgeschehen, die Weltanschauung der Zeit, in der die Gemälde entstanden sind, helfen dem Betrachter sicher zu einem besseren Verstehen des in den Bildern Dargestellten. Und das ist auch das Wesentliche der Kunstbetrachtung. Wenn sich der Betrachter dann selbst in den Kunstwerken wiederfinden will - auch gut.

Mit der Rahmenfigur Hannah hält die Autorin die einzelnen Geschichten über die willkürlich ausgewählten Künstler und deren Gemälde zusammen. Diese Konstruktion tritt schon bald in den Hintergrund, nachdem Auffermann mit Hilfe von Hannah ihre Art der Kunstbetrachtung erklärt hat. Auffermann spinnt die Lebensgeschichten der Künstler rund um deren exemplarisch ausgewählte Kunstwerke. Ihr Thema sind verschiedene italienische Maler vom 15. bis in das 18. Jahrhundert - von Paolo Uccello, dem sie einen "Spleen für die runde Form" andichtet, zu Giovanni Battista Tiepolo, der "darauf insistiert, dass dem Betrachter das Sehen in der richtigen Reihenfolge spielerisch beigebracht und nicht lehrhaft abverlangt wird".

Die Autorin, von Haus aus Literaturkritikerin und Kunsthistorikerin, beschreibt die Gemälde äußerst anschaulich, geistreich und witzig, erzählt nebenbei selektiv aus der Biografie der Künstler und macht so Lust, mehr über sie und ihre Werke zu erfahren. Zwischen diese Geschichten streut sie Anekdoten aus dem Leben des heutigen Kunstreisenden: Wer kennt sie nicht, die kleinen Kästchen, die in italienischen Kirchen bei Einwerfen von 500 Lire dem Kunstinteressierten erst das Licht gewähren, das zum Betrachten des Bildes nötig ist.

Allerdings ist es angebracht, diese eigenwilligen Essays nur als Einstieg in die Kunstgeschichte zu begreifen. Die Essays zeichnen lediglich ein unvollständiges und subjektives Bild von den Künstlern und ihrer Zeit. Wenn es sein muss, erfindet Auffermann auch Geschichten um die in den Gemälden erzählten Sujets. Dadurch wird der tatsächliche historische Hintergrund verfälscht - der Leser bekommt mitunter ein vollkommen falsches Bild. Da wird der heilige Georg, der die entführte Prinzessin Beatrix vor dem Drachen rettet, in Paolo Uccellos Bild "Heiliger Georg und der Drache" zu einem Triebtäter, der den Drachen nur tötet, um sich der Prinzessin zu bemächtigen.

Die Autorin bemängelt den Umgang der Kunsthistoriker mit der Kunst, da es in deren Abhandlungen nur um "spitzfindigen Fußnotenfleiß", um den Streit um Zuschreibungen und die richtige Datierung gehe. Dabei lässt sie außer Acht, dass die Kunstgeschichte eine wissenschaftliche Disziplin ist, die - wie jede andere - Fachliteratur in der eigenen Fachsprache hervorbringt. Selten sind diese Diskurse für ein breites Publikum aufbereitet oder auch nur gedacht.

So amüsant und kurzweilig die Essays, so schade ist es, dass die schwarzweißen, zahlreichen Abbildungen meist zu dunkel reproduziert sind, und Dargestelltes oft, gerade wenn es um die so wichtigen Details geht, nicht zu erkennen ist - denn der Aha-Effekt steckt bei vielen Kunstwerken im Detail. Doch vielleicht macht auch dieser Mangel Lust, die Bilder im Original sehen zu wollen. Womit sich die Lektüre schon gelohnt hätte.

Titelbild

Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays.
Berlin Verlag, Berlin 1999.
165 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3827003091

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