Vom schweifenden Blick zur Bildwurfmaschine

Eine innovative Studie zum "Film vor dem Film"

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben Jesus am Kreuz und der Duschkopf in Hitchcocks "Psycho" gemein? Beides sind Bilder von eindrücklicher Intensität, die unsere Phantasie beschäftigen. Nun, sicherlich sind die Gedanken an Gottes Sohn, der in einem grausamen Akt am Kreuz starb, um die Welt von der Schuld zu erlösen und die suspense, die entsteht, wenn die vermeintlich alltägliche Szene im Genrespiel des Thrillers nur Präludium für das Schockhafte bestialischer Brutalität sein kann, zwei grundverschiedene Dinge, aber affektbeladene und gleichzeitig zitierfähige Symbole für die mediale Bilderwelt sind beide. Welches Bild durch seinen Gebrauch eher trivialisiert und seiner Affekthaftigkeit beraubt wurde, ist angesichts des omnipräsenten Spiels mit Bildern, der Montage und Demontage ihrer Sinnhaftigkeit, kaum zu unterscheiden. Dass diese scheinbar hergesuchte Verwandtschaft aber historisch fundiert ist, und dass die bekannte Sequenz aus "Psycho" lediglich eine Schrumpfstufe von Bildtypen ist, die im Spätmittelalter die Imagination des gläubigen Christen befeuerten oder in der Frühen Neuzeit den Soldaten die Rationalität des effizienten Krieges aus tausend Mündungsfeuern vermittelten, dieses versucht Jörg Jochen Berns in seinem Essay "Der Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit" zu belegen. Ihm geht es um formale Prinzipien, deren Loslösung von konkreten, heilsgeschichtlich verbürgten Inhalten im Laufe der Frühen Neuzeit jene Suche nach dem bewegten Bild und dessen Ästhetik prädisponierten, an deren vorläufigem Ende der Film in Kino und Fernsehen steht. Und diese "Verwandtschaft der Inventionsenergien von Frömmigkeit und maschinistischer Rationalität" demonstriert er eindrucksvoll an Bildmaterial, das bisher weder von medien- noch von kunsthistorischer Seite recht zur Kenntnis genommen wurde: den so genannten "Arma Christi-Bildsymbolen" (,Wappen? oder ,Waffen? Christi) aus der spätmittelalterlichen Praxis der Passionsfrömmigkeit und den von Berns so bezeichneten "Arma hominis", Bildsequenzen, die in Waffen- und Militärbüchern seit dem späten 16. Jahrhundert den choreographierten Landsknechtsheeren die Disziplin des Schusswaffengebrauchs zeigten.

Berns Anliegen ist es, "in Absetzung von einer Praecinema-Forschung, welche sich als nurmehr technologie- und maschinenhistorische Disziplin versteht, Grunddisposition und Anbahnungsgeschichte filmischer Wahrnehmung in Psychologie, genauer in Seelengeschichte, zu fundieren", indem er "erbauungstheologische und psychodidaktische Vorstellungen" freilegt, von denen aus ermittelt werden soll, "welche Erbauungswünsche technologische Phantasie anregten, welche imaginationspsychologischen Bedürfnisse Erfindungsimpulse freisetzten und das Austesten von wahrnehmungsphysiologischen Basisverfahren stimulierten". Den gemeinsamen Nenner seiner beiden Bildtypen, Arma Christi und Waffenhandhabung, sieht der Autor in der Erziehung bzw. im Drill von Leib und Seele (einmal zum Seelenheil, zum andern für eine Kriegseffizienz), sowie im formalen Kriterium der "Komplexitätsreduktion von szenischen Bewegungsverläufen durch Segmentierung".

Der Idee, durch Projektionen für das Auge die Seele des Betrachtenden zu beeinflussen, liegt psychologiegeschichtlich die Annahme zugrunde, dass das äußere Auge mit einem inneren Auge korrespondiert, welches zu den Seelenkräften des Menschen, Imagination, Gedächtnis und Wille, in Beziehung steht, aber die eigentliche, von der Außenwelt gereinigte Erkenntnisleistung erbrachte. Demzufolge mussten zu vermittelnde Inhalte nach Formen visueller Repräsentation gestaltet werden, die jenes innere Auge speisten, d. h. die Imagination als "gute" Form der Vorstellung (in Abgrenzung zu den weltlichen, ablenkenden Phantasmata) begünstigten, ohne diese durch ein Überangebot und eine Fehlleitung an Bildern zu bevormunden: die Wahrheit der Bilder musste äußerlich wie innerlich verbürgt sein. Diese Bewegung des inneren Bildes durch das äußere sieht Berns in Bildformen des Spätmittelalters geleistet, die der breiten Frömmigkeitspraxis dienten: Die Arma Christi als Bildkürzel für die Stationen der Passion Christi oder auch der Rosenkranz lieferten Ansätze, die Narration des biblischen Berichts nachzuvollziehen; zugleich ließ aber die freie Anordnung der Piktogramme rund um das Christusbild Raum für den Betrachter, die Sequenzierung der Erzählung selber zu vollziehen; die Passion ereignet sich in der Imaginationskraft des einzelnen Menschen, sie ist verinnerlichtes Bild, ohne jemals Christus als Bildmitte aufzugeben. Von Leroi-Gourhan entlehnt Berns für dieses System der die Mitte umkreisenden Peripherzeichen das 'Halo'-Modell.

Interessanterweise ist die relative Freiheit der religiösen Passionssymbole in ihren Bildsystemen (z. B. der Gregorsmesse) nie gänzlich zugunsten einer vollständig festgelegten Reihung aufgegeben worden, obwohl es solche Ansätze beispielsweise in Drehscheiben gab, die aber wie jedes kombinatorische Verfahren gegenüber einem Bilderstrip noch Möglichkeiten zu Umstellungen und damit zu eigener, innerer Umsetzung von Bildfolgen offen lassen. Die Anordnung von Szenen in dem fest gefügten, disziplinierten Ablauf einer Reihe lässt sich dann in den Militärbüchern der Frühen Neuzeit greifen: Berns demonstriert materialreich, wie die Bilderzeilen mit der zunehmenden Disziplinierung des Soldatenhandwerks in den Massenheeren des 17. und 18. Jahrhunderts sich differenzieren, bis sie schließlich verblüffende Ähnlichkeit mit fotografischen Bewegungsstudien erreichen, die als direkte Vorläufer des bewegten Bildes gelten können.

Die Übertragung der Zeile in die Scheibe und damit die Bewegung ist dann nur noch ein technischer Schritt, der durch seine Faszinationskraft im 17. Jahrhundert die gesellschaftliche Triebkraft erhielt; die Begeisterung für die Projektion des bewegten Bildes mittels Camera obscura und Laterna magica belegt Berns mit emphatischen Berichten der Frühen Neuzeit, die den Jubelstürmen der Zeitzeugen der ersten Fotografien mehr als nur ähneln. Inhaltlich bedeutet die Projektion, dass die ehemaligen Randzeichen der Christusfigur zuerst im Prinzip der Zeile, dann der Rotation sich von ihrer Bildmitte emanzipieren, dass die innere visuelle Rekonstruktion der Erzählung durch die äußere Repräsentation der Bildabfolge und ihrer Erzählung ersetzt wird: "Je mehr Bilder mechanisch - und das heißt zugleich ,vor den Augen? - in sich bewegt und verändert werden, desto weniger Bilder müssen und können 'hinter den Augen' in Memoria- und Phantasie-Kammern gespeichert und vom inneren Auge bewegt werden". Wurden vorher die bewegenden Bilder selber bewegt, erzeugt, so bewegen uns nun in der Projektion die beweglichen Bilder: "Die Illusionsgeschichte emanzipiert sich mittels der Bildrota von der Imaginationsgeschichte". Das Auge wird von ehemals peripheren Zeichen fast zwangsläufig gebunden, diszipliniert.

Berns' Geschichte darüber, woher unsere Flimmerbilder kommen, ist zuerst verwirrend und führt den Leser, der mit den klassischen Medientheorien vertraut ist, in eine ziemlich unbekannte Welt. Gegenüber den rein technologischen Ableitungen der Mediengeschichte hat sie aber den Vorteil, die Genese der Faszination des bewegten Bildes außerhalb eines Maschinenfetischismus und außerhalb einer Geschichte der Überrumpelung durch das Medium plausibel zu machen. Dass Berns diesen Prozess als Verarmung des imaginierenden Menschen sieht, ist aufgrund seiner Argumentation nicht verwunderlich: "Mit der steigenden Differenzierung gewannen die äußeren Bilder aber Substanz und Eigenmächtigkeit: die der Reproduktion. Sie emanzipierten sich zunehmend von der Memorier- und Meditationsfunktion, indem sie sich der Interiorisation widersetzten. Denn just in dem Maße, wie die äußeren Bilder reproduktiv illusionistisch werden, verlieren sie an imaginativ produktiver Kraft [...]. Die Technik vereitelte zunehmend die Wahrnehmung ihres Wesens selbst. Die Augen versahen sich, vergafften sich, blieben an den bewegten Bildern haften, ließen sich reflexionslos von ihnen fortziehen". Sind wir also Opfer des Jagdtriebs unserer Augen?

"Film vor dem Film" lässt einige Fragen offen: so z. B., inwiefern die informationstechnologische Kraft des neuen Mediums nicht neben der illusionistischen legitimierend und stimulierend wirkte, oder - damit zusammenhängend - ob die Wirksamkeit des bewegten Bildes nicht auch darin besteht, dass es einen anderen Typus von Information bedient, damit also nicht per se als imaginationsvernichtend zu beurteilen ist. Damit schließen wir uns der Hoffnung des Autors an, dass eine neue Form von Vorstellungswelt sich neben der filmischen Bilderflut etablieren kann: the medium ist eben doch not the message.

Zwar stellt der Essay aufgrund seiner Kürze und Komprimiertheit keine leichte Lektüre dar, aber er dürfte einer Medienwissenschaft, die ihre Medienanalyse und -kritik aus der historischen Analyse neu beleben möchte, wichtige Impulse geben. Es könnte unsere Ohnmacht gegenüber der medialen Eigenwelt beheben helfen.

Titelbild

Jörg Jochen Berns: Der Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit.
Jonas Verlag, Marburg 2000.
168 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3894452684

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