Kultiviertheit und Eleganz

Francois Nars' fotografisches Debüt

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich ein sieben- oder achtjähriger Junge von Bildern der "Vogue" fesseln lässt und nicht von Abenteuergeschichten, so mag man sich fragen, ob in einem solchen Verhalten präpubertäre Obsession oder ästhetische Faszination zum Ausdruck kommt. In diesem Alter jedenfalls befand sich François Nars, als er zum ersten Mal in das führende Blatt der Haute Couture blickte und ihm die Bilder nach eigener Auskunft die Idee scheinbar unvergänglicher Schönheit vermittelten. Freilich hatte Nars keine beliebige Nummer aufgeschlagen. Es handelte sich um ein von Marlene Dietrich persönlich herausgegebenes Weihnachtsheft, ein Portfolio avantgardistischer Fotografie der frühen siebziger Jahre. Die Faszination, die von den Bildern Guy Bourdins und anderer Fotografen ausging, hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Gleichwohl waren es ausschließlich wirtschaftliche Gründe, die Nars Jahrzehnte später selbst zur Kamera greifen ließen. Als er, inzwischen zum Visagisten ausgebildet und als solcher zu einiger Bekanntheit gelangt, 1994 eine eigene Make-up-Serie entwarf, fehlten ihm für deren Promotion die nötigen finanziellen Mittel. Weil er keinen renommierten Fotografen fand, den er hätte bezahlen können, fotografierte Nars seine Models selber und versuchte in seinen Bildern das festzuhalten, worin er stets das Fundament von Schönheit gesehen hatte, nämlich Kultiviertheit und Eleganz. "X-Ray" ist sein erster Fotoband. In dieser Porträt-Sammlung spielt Mode nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr sucht Nars den Stil und die Persönlichkeit von Menschen abzubilden. In beidem sieht er keine Merkmale der Privilegierten, sondern Kennzeichen einer Gruppe von Menschen, die er als die wahre kultivierte Elite begreift. Auf den insgesamt 241 Bildern des Bandes sind daher sowohl international bekannte Stars als auch unbekannte Personen festgehalten. Der Künstler will, wie der Titel andeutet, seine Aufnahmen als Röntgenbilder verstanden wissen, als Bilder, die in einem Augenblick der Wahrheit den Blick auf die Individualität jedes Einzelnen freigeben. Alle Modelle wurden daher bei Tageslicht und vor einem weißen Hintergrund porträtiert, der die Aufmerksamkeit des Betrachters auf Gesicht oder Körper fokussiert. Die 8x10-Kamera, die Nars bei seiner Arbeit verwendete, erlaubte ihm nicht nur, während der Aufnahme ohne Blick in den Sucher mit seinen Modellen zu kommunizieren, um so einen intimeren Kontakt herzustellen, sondern verleiht den Bildern zugleich den Ausdruck von Unmittelbarkeit und Nähe. Das Spektrum der fotografischen Inszenierung ist weit gefasst. Es reicht vom Akt und Closeup über Manifestationen bürgerlicher Behaglichkeit bis hin zum schrillen Popart- und Punk-Look. Letztlich bleibt es dem Betrachter überlassen, welchen Stil er bevorzugt. Nars' Band bietet ein Panorama unterschiedlicher Persönlichkeitsentwürfe, die mannigfach Möglichkeiten zur Identifikation bieten.

Titelbild

Francois Nars: X-Ray. Mit einem Vorwort von André Leon Talley.
Schirmer/Mosel Verlag, München 1999.
256 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3888149517

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