Feministische Wissenschaft als Paradigma aller Wissenschaften

Waltraud Ernst ist auf Piratinnenkurs

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise


Nun ist zwar Postfeminismus nicht gerade in, dafür aber Feminismus um so sicherer ein für allemal out. Das sähen zumindest einige Herren sehr gerne. Und genau dagegen spricht sich die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Waltraud Ernst aus. Sie verlangt nicht weniger, als dass "feministische Wissenschaft zum Paradigma für alle Wissenschaften" werden solle. In ihrem Buch "Diskurspiratinnen" tut sie alles, um dieser Forderung den Weg zu ebenen, und sie tut es überzeugend. Ihr Argumentationsgang "entlang der Begriffe Erfahrung, Objektivität und Konstruktion" ist klar strukturiert und nachvollziehbar. Zunächst erläutert sie, wieso feministische Wissenschaft mehr ist als eine Theorie 'der Frau' oder des Geschlechts: Weder sind nur Frauen feministische WissenschaftlerInnen, noch ist ihr Gegenstandsbereich auf Frauen oder Geschlecht begrenzt. Vielmehr zielt feministische Wissenschaft auf die gesamte Wirklichkeit. Zudem betont die Autorin, dass feministischer Forschung stets ein emanzipatorisches Moment innewohnt, wohingegen das bei Geschlechterforschung nicht notwendig der Fall sei. Erst wenn die Funktionalisierung von Geschlecht für "hierarchische soziale und epistemische Verhältnisse" problematisiert wird, also einen "feministischen Impetus" erhält, wird Geschlechterforschung emanzipatorisch und gesellschaftlich transformativ. Das bestimmende Wesensmerkmal feministischer Theorie besteht also weder in einem bestimmten Erkenntnis-Subjekt noch in einem begrenzten Objekt der Erkenntnis. Es liegt in einem speziellen Erkenntnisinteresse.

Die Aufgabe feministischer Wissenschaftstheorie nun besteht darin, die epistemologischen Voraussetzungen und Implikationen der einzelnen Wissenschaften zu untersuchen. Ebenso aber auch die der Methoden, Analysen und Ergebnisse feministischer WissenschaftlerInnen, die transdisziplinär "Lebenswirklichkeiten", also soziale Hierarchien, insbesondere die Geschlechterhierarchie, erforschen.

Ernst betont nachdrücklich, dass die Naturwissenschaften, "die größte Herausforderung" für die feministische Erkenntnistheorie, mit einbezogen werden sollten. Unter Bezugnahme auf Elvira Scheich und Donna Haraway belegt sie beispielhaft an den Disziplinen Biologie und Physik, dass "auch für den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß das soziohistorische Verständnis der persönlichen, erotischen und sexuellen Beziehungen von zentraler Wichtigkeit ist." Natur wird als "epistemische und soziale Entität" nachgewiesen und so ein Begriff von Natur gewonnen, der "weder im Ontologischen, noch im Materiellen" begründet ist, sondern im Sozialen.

Nachdrücklich und überzeugend dekonstruiert die Autorin die "Vorgabe aperspektivischer Objektivität" und zeigt, dass ihre Ergebnisse "die vielschichtigen Diskriminierungen von Frauen auf vielfältige Weise" begründen, stützen oder sogar mit produzieren. Zudem macht die Autorin die These plausibel, dass es diesen vermeintlichen "Blick aus dem Nirgendwo", der Objektivität ermöglichen soll, gar nicht gibt, sondern er vielmehr "selbst eine Vorstellung, eine Projektion aus einem sozialhistorisch definierbaren Ort heraus" ist. Als wissenschaftstheoretische Richtschnur schlägt sie stattdessen einen "Begriff von Veränderung wissenschaftlichen Wissens und sozialer Wirklichkeit vor, der Prozesse der Emanzipation und des Enpowerment von Personen aus epistemischen Geschlechterhierarchien" benennt. Wissenschaftstheoretische Verbindlichkeit stellt sich also durch soziale Wirksamkeit her, nicht durch eine vermeintlich überhistorische heuristische Norm.

Nun könnte es scheinen, als ginge hiermit eine Präferenz für einen bestimmten privilegierten Erkenntnisstandpunkt - etwa den der 'Frauen' - einher. Doch weit gefehlt: Ernst lehnt die Annahme eines universellen feministischen Erkenntnisstandpunktes, wie er sich ausgehend von Nancy Hartsock und Sandra Harding entwickelt hat, dezidiert als "verfälschend und normativ" ab, da es "'die universelle Lebenserfahrung der Frau'" nicht gebe. Allerdings genüge es nicht, die Mannigfaltigkeit von Frauen und ihren Lebenswirklichkeiten "zu erkennen und zu preisen". Vielmehr sei es notwendig zu untersuchen, inwiefern die Differenz in der Differenz als Fundament sozialer Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien dient. Es gilt also, den "romantisierenden Blick auf die Diversität von Frauen aufzugeben" und statt dessen auch die Hierarchisierung innerhalb der Frauen zu problematisieren. Ausgehend von ihrer nicht sonderlich neuen oder überraschenden Erkenntnis, dass es 'die Frau' nicht gibt, weißt die Autorin dezidiert die gelegentlich immer noch vertretene These des privilegierten "Erkenntnisstandpunktes der Unterdrückten" zurück und warnt vor der "Romantisierung von Marginalisierung". Überhaupt könne eine "epistemische Positionierung" nicht zwangsläufig und ausschließlich auf die "soziale Positionierung" des erkennenden Subjekts zurückgeführt werden. Was aber qualifiziert bestimmte Personen oder Gruppen für spezifische Bereiche wissenschaftlicher Erkenntnis, wenn es nicht ihre "soziale Situiertheit" ist? Die Antwort, so die Autorin, hat nicht so sehr mit Geschlechtsidentität oder Marginalisierung zu tun, als vielmehr mit dem Erkenntnisinteresse. Nicht der Standpunkt also privilegiert zur - besseren - Erkenntnis, aber das Erkenntnisinteresse privilegiert - wenn man so will - eine bestimmte Wissenschaft, die feministische nämlich. Das Kriterium wissenschaftlicher Verbindlichkeit ist also weder an Objektivität gebunden, noch an 'Wahrheit', sondern entsteht durch "soziale Realitätswirksamkeit oder Effektivität wissenschaftlicher Modelle und Inhalte", die auf gesellschaftliche Transformation und "Enpowerment" von Personen aus epistemischen und sozialen Hierarchien abzielen.

Die Autorin propagiert eine feministische Erkenntnistheorie, die nicht nur die variable soziale und materielle Position des Erkenntnissubjekts im Erkenntnisprozeß konzeptualisiert, sondern ebenso die Möglichkeit, transformatorisch über ihn und andere Prozesse hinauszugehen. So führt die "Kritik an Geschlechterhierarchien" auch zur "Kritik an Herrschaftsverhältnissen unter Frauen", die durch die Etablierung feministischer Wissenschaften nicht nur sichtbar werden, sondern auf scheinbar widersprüchliche Weise begünstigt werden können. Feministische Wissenschaften sind also ebenso selbstkritisch wie kritisch. Wenn "sowohl androzentrische als auch viele feministische Konzeptionen von Geschlechterdifferenz eine hierarchische heterosexuelle Begehrensstruktur mittransportieren", so ist das einer der Punkte, an denen feministische Wissenschaft Selbstkritik zu üben hat, wie Ernst betont.

Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung werden von der Autorin natürlich nicht als "Repräsentationen (im Sinne von Abbildern einer vorgängigen Wirklichkeit)" missverstanden. Ernst ist Konstruktivistin genug, um die These zu verfechten, dass Wissenschaft "zum Teil Interpretation, vor allem aber Konstruktionen von Wirklichkeit" liefert. Dabei weiß sie sehr wohl, dass die Annahme der Konstruktion von Wirklichkeit erkenntnistheoretisch nicht gerade sensationell ist. Bedeutet sie doch zunächst nur, das 'etwas' - sei es ein Diskurs, ein Verhältnis oder ein Gegenstand - nicht von sich aus so ist, wie es ist, also nicht 'an sich' ist. Der Clou von Ernsts (De-)Konstruktivismus liegt in der Frage "wer was konstruiert, und was wen konstruiert." Letztlich: "Wer konstruiert was wie?" Und warum - könnte man hinzufügen.

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Waltraud Ernst: Diskurspiratinnen. Wie feministische Erkenntnisprozesse die Welt verändern. Reihe Frauenforschung Bd.38.
Milena Verlag, Wien 1999.
284 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3852860717

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