"Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich"

Karl Ignaz Hennetmairs Tagebuch "Ein Jahr mit Thomas Bernhard"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Ignaz Hennetmair musste äußerst vorsichtig sein, um es sich mit seinem berühmten, manchmal unberechenbaren Freund nicht zu verscherzen. "Es war ein großer Fehler von mir, diese Frage zu stellen", schreibt er am 31. Mai 1972, "denn wenn Thomas in ,Schwung' ist, kommt er sowieso freudestrahlend zu mir und sagt: ,Heute ist es wieder gegangen, aber jetzt mußte ich raus' (gemeint war, an die frische Luft). Thomas hat also offenbar noch nicht damit begonnen, das ,Gerüst' seines neuen Romans 'Korrektur' auszufüllen. [...] Mit so einer direkten Frage an Thomas könnte ich mir die Quelle zuschütten."

Die Quelle ist eine durchaus wertvolle, darüber ist sich der Realitätenvermittler Karl Ignaz Hennetmair auf jeder Seite seines Tagebuchs bewusst. Deshalb widmet er sich auch kaum einer anderen Aufgabe als der, noch die kleinste Äußerung des Dichters Thomas Bernhard auf die Goldwaage zu legen und aufzuschreiben. "Aber wenn ich nichts aufzeichne", ist sich Hennetmair in seiner sehr anheimelnden Redlichkeit sicher, "geht später jede Bernhardforschung ins Leere." "Das notariell versiegelte Tagebuch 1972" - nun ist es auf die Welt und die Wissenschaft gekommen, und nicht nur eingefleischte Bernhard-Jünger dürften daran ihre Freude haben.

Das liegt vielleicht an der peniblen, an manchen Stellen der Diktion Bernhards erliegenden Mitschrift Hennetmairs. 1965 haben die beiden sich kennen gelernt. Hennetmair vermittelte dem damals 34-jährigen Bernhard den Vierkanthof Obernathal 2 in Ohlsdorf, ein abgelegenes Bauernhaus in Oberösterreich, das die literarische Produktion Bernhards gehörig antreiben sollte. Später vermittelte Hennetmair weiter, zwischen der Außenwelt und der Innenwelt des Autors, der die Bezeichnung "Schriftsteller" hasste wie nichts sonst und deshalb die Berufsbezeichnung "Landwirt" in seinem Pass stehen hatte. Und als Hennetmair für Bernhard unentbehrlich wurde, ihm näher kam als sonst jemand in dieser Zeit, hat der einfache Mann den Dichter beobachtet und belauscht und das Beobachtete und Belauschte aufgeschrieben, und das sehr genau.

Ob die beiden zusammen spazieren gehen, in der Familie Hennetmair gegessen wird, Bernhard seine Geschichten erzählt und damit "Lachkrämpfe" provoziert oder an Omis (gemeint ist die Mutter Hennetmairs) Fernseher gemeinsam "Was bin ich" geschaut wird - wir erfahren davon in aller Ausführlichkeit. Zugleich bekommen wir aber auch die Sorge des heimlichen Protokollanten mitgeteilt, er könne sich manches nicht merken. Gerade die geschliffensten Schimpftiraden auf den ausgiebigen gemeinsamen Wanderungen könnten leicht verloren gehen. Da Bernhard nicht mitbekommen darf (auch wenn er es vermutlich bald schon ahnt), dass da jemand das Historische dieses täglichen Abfalls an Erlebnissen, Katastrophen, kuriosen Anfeindungen und Widersprüchlichkeiten erkennt und bewahren will, muss Hennetmair zu einigen Tricks greifen: Er bietet sich an, Kopien für den Autor zu machen, um selbst der Kopie eines Briefes habhaft zu werden. Er eilt manchmal unter einem Vorwand in die Küche, um schnell eine Notiz über eine der Äußerungen Bernhards zu erstellen. Er lässt seine Frau aufpassen, ob der Thomas nicht schon ein bisschen früher als zum vereinbarten Zeitpunkt zu Besuch kommt: In diesem Fall soll sie Hennetmair warnen, damit er seine Schreibmaschine und seine Aufzeichnungen rechtzeitig wegpacken kann.

Hennetmair ist ein Freund, der Bernhard immer wieder zuredet, ihn bestätigt, zugleich auf eine schmeichelnd-eindringliche Art versucht, der eigenen Meinung nicht verlustig zu gehen dem großen Kauz gegenüber, der den Österreichhasser in Vollkommenheit gab. Bei der Lektüre des zuweilen ziemlich komischen Tagebuchs gewinnt man den Eindruck, dass Hennetmair kaum seiner Arbeit als Realitätenvermittler - auf gut deutsch: Immobilienmakler - nachgehen konnte, sondern diese Tätigkeit in anderem Sinn ganz auf den Dichter übertrug: Kaum ein Tag vergeht, an dem er Bernhard nicht die Post zu seinem Hof bringt, sich mehrmals mit ihm trifft, sich dessen Klagen anhört, ihn zum Arzt begleitet, die Korrespondenz mit ihm durchspricht, ihm behilflich ist, Grundstücksfragen zu klären, oder sich um die Anwesen zu kümmern. Hennetmair schlüpft nacheinander in die Rolle des Psychiaters, Privatsekretärs, Kindermädchens und Saufkumpans. Manchmal ist er alles zur selben Zeit.

Einmal, und das ist nur eine von vielen wunderbaren Stellen, erinnert sich Hennetmair daran, wie sie vor dem Fernseher saßen und die Meldung kam, dass der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer gestorben sei. "Wie elektrisiert sprang Thomas vom Sessel, klatschte in die Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in Österreich das Renommierpferd, und solange der lebte, konnte kein anderer was werden, es konnte keiner hochkommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich. Aber so wie den Doderer werden sie mich nicht bekommen. So einen Doderer werde ich ihnen nicht spielen, denn wenn man sich zu allen offiziellen Anlässen sehen läßt, wird man verschlissen, abgelenkt und irritiert."

Um das Werk Bernhards geht es hier auch, aber nicht im philologischen Ernst. Etwa erfährt man, wie Bernhard zu seinen Stoffen gekommen ist: Auf dem Weg zwischen Bad und Küche nämlich ereilte ihn die Idee für seinen neuen Roman. Man kann haargenau die Entwicklung des Skandals um sein Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" bei den Salzburger Festspielen 1972 mitverfolgen. Aber analysiert werden die Texte nicht. Dass er der größte Dichter auf Gottes Erdboden sei, das ist Hennetmair und Bernhard ohnehin klar.

Der Tagebuchschreiber sah sich als einer, der das Schaffen des Autors befördern wollte: Dafür nahm er einiges in Kauf, auch Gehässigkeiten. Er adoptierte Bernhard gewissermaßen als weiteres Familienmitglied, gab ihm Rückendeckung, wenn wieder einmal unerwünschter Besuch anrückte. Manchmal versteckte er ihn bei sich. Er gab ihm Recht, wo er Unrecht hatte, und schlug sich auf seine Seite. Bernhard sollte und konnte ihm vertrauen. Das war bedingungslos. Und manchmal stimmten sie zweistimmig den Grantler an: "Zum 13. Februar 1972, dem Spaziergang mit den Hufnagls, möchte ich noch nachtragen, daß Thomas und ich behaupteten, in Bezug auf die derzeitigen Neubauten könne man nur auf einen Krieg hoffen, wo diese Bauten alle wieder zerstört würden. Thomas selbst würde die Einsatzbefehle zum Sprengen erteilen, und beim Anblick der Trümmerhaufen würde er erstmals ,positive Worte' wie herrlich, prächtig, wunderbar usw. gebrauchen. Wir haben auch Einzelheiten über die Anbringung von Sprengladungen besprochen. Bei Hochbauten würden die Ladungen einseitig so angebracht, dass der Koloss nur nach der Seite fällt und so zerschellt. Wir berieten, wie man diese Bauten mit wenig Sprengmitteln zerstören könnte. (Thomas möchte Bauten von Architekt Hufnagl zerstören.)"

Titelbild

Karl Ignaz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2000.
600 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3701712077

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