Zwischen den Stühlen

Das "Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft" wagt den Spagat zwischen Kontinuität und Grenzöffnung des Fachs

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Bestreben, die Grenzen des eigenen Fachs zu überschreiten, hat sich in den letzten Jahren für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen als äußerst dringlich erwiesen. Auch die Literaturwissenschaft begibt sich immer mehr, vor allem im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der "Cultural Studies", auf den Weg zu neuen Gegenstandsbestimmungen. Die vielfach proklamierte "Wende" in der Literaturwissenschaft hat sich dementsprechend vor allem der "Textualisierung" von Kulturen, der Überlagerung und Deplazierung kultureller Text- und Symbolisierungstraditionen und der Autorität von Texten im Gefüge der kulturellen und politischen Hierarchien zugewandt. Recht bald ist jedoch erkannt worden, dass die Kompetenzen einer bloß philologischen Textinterpretation an deutliche Grenzen stoßen. Hinter der Forderung nach einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Textwissenschaften verbirgt sich nicht selten eine Neusicht literarischer Texte überhaupt: Literarische Texte werden nun vor allem als Medien kultureller Selbstauslegung deklariert und die Tätigkeit des Interpretierens zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem umfassenderen Korpus kultureller Texte weiterentwickelt. Literarische Texte für einen Raum interkultureller Differenzen im Wahrnehmen, Denken und Handeln in Anspruch zu nehmen, statt sie auf Einheits- und Identitätsstrukturen zu verpflichten - darauf zielt eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft, die jenseits der überkommenen Verengung auf Nationalliteraturen Untersuchungsperspektiven zu etablieren sucht, in denen kulturelle Hierarchien und deren Text-Kanonisierungen in Frage gestellt werden.

Streng genommen ist die hermeneutisch-historische und philologische Ausrichtung der Geisteswissenschaften schon seit mehr als dreißig Jahren verschiedenen Wellen der Kritik und Modifizierung ausgesetzt worden. Dieser Trend begann bekanntlich mit dem 'linguistic turn', setzte sich im Zusammenhang der einander gegenübergestellten Paradigmen des Strukturalismus und der Sozialgeschichte fort und fand in den achtziger Jahren mit poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen seinen Höhepunkt. Ohne tiefergehende Intentionen entstand dabei ein Theorienpluralismus und in dessen Gefolge ein durchaus hegemoniefreier, doch umstrittener und unruhiger, sich der überlieferten Bestände ebenso versichernder wie neuen Orientierungen sich aussetzender Diskursraum, der als ungemein produktiv angesehen werden kann.

Vielen dieser Ansätze gemeinsam ist die Vorstellung von Texten als Ensembles heterogener Einschreibungen. Die Souveränität des Textes gilt - in Foucault-spezifischer Terminologie - als Fiktion, die von einem herrschenden Diskurs produziert wird, um diesen Diskurs selbst unsichtbar zu machen. In dieser Selbstreferentialität erscheint der Text als eine Art 'generativer Grammatik' von 'Kultur'. Sichtbar wird eine 'Archäologie des Wissens', die nicht dem Rückgang auf Ursprünge, sondern eher einer 'Ethnologie' der eigenen Kultur dient. Explizites Ziel ist es, einen 'neuen' Gegenstandsbereich zu erschließen: ein Verständnis der Textvermitteltheit von Kulturen ebenso wie von kulturellen Implikationen literarischer Texte. Verstärkte Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf Strategien der Verarbeitung von Fremderfahrungen, auf differenzlogische Strukturen, auf Dimensionen kultureller, zeit- und geschlechtsspezifischer Symbolisierungen sowie auf die Anwendung polyphoner, oft gegenläufiger Interpretationen und ihre Verarbeitung auf der Ebene kultureller Darstellung. Diese Ausdehnung des Kulturbegriffs hat dazu geführt, dass heute von einer prinzipiellen Heterogenität nicht mehr vermittelbarer Kulturen gesprochen wird, die höchstens noch, unter der generellen Textualität von Kulturen, als ein Orchester von Texten und Kontexten beschreibbar sind.

Vor dem Hintergrund der schier unerschöpflichen Theoriedebatten haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von Forschungsschwerpunkten gebildet, in denen nicht über Kulturwissenschaft auf einer Metaebene debattiert, sondern diese - im Dialog der Disziplinen - materialiter praktiziert wird. Dazu gehören neben den genannten ethnologischen und kulturanthropologischen Deutungsperspektiven vor allem die inzwischen gut entwickelte Forschung zur Medienkultur, die sich stets im kulturellen Feld oder im ästhetischen Kontext zu reflektieren hat, sowie die ebenfalls immer mehr expandierende Forschung zu Formen und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungskultur. Die Überlegung, dass alle Kulturen sich über Gedächtnismedien reproduzieren, lässt diese zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand werden, mittels dessen die Dynamik von Kulturen zwischen Identitätserhalt und -zerfall gedeutet werden kann. Dabei spielen Fragen nach der Qualität und Quantität von Überlieferungsträgern ebenso eine Rolle wie Prozesse der Kanonisierung von Überlieferungen und deren Entdifferenzierung, die Herstellung von Speichertechniken und symbolischen Formen des Gedächtnisses sowie schließlich die besonderen Verbindungen, die Raum- und Zeitstrukturen in Formen des Gedächtnisses und der Erinnerung eingehen.

Allen diesen Ansätzen inhärent ist jedoch die Gefahr, sich gleichsam 'zwischen die Stühle' der Disziplinen zu setzen. So verwundert es auch nicht, immer wieder in mitunter aufdringlicher Larmoyanz hören zu müssen, dass angesichts dieses Methodenpluralismus' der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden komme. Dass dem nicht so ist, zeigt auf recht eindrückliche Weise ein seit 1997 auf den Weg gebrachtes germanistisches Großprojekt: die Neubearbeitung des "Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte" (RLW) unter der Federführung von Harald Fricke, Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Klaus Weimar und Friedrich Vollhardt. Das mittlerweile in zwei Bänden vorliegende Begriffswörterbuch bietet neben einer recht umfassenden und systematischen Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs auch einen repräsentativen Querschnitt durch die in den letzten Jahr(zehnt)en neu entstandenen Theoriebildungen. Damit trägt das RLW dem Umstand Rechnung, dass kein Teilbereich der Literaturwissenschaften in den letzten Jahren einen ähnlichen Boom erlebt wie die Literaturtheorie. Etliche Artikel bieten einen kompakten Überblick über die Vielfalt der literaturwissenschaftlichen Ansätze, so etwa die z. T. ausgezeichneten Artikel zur psychoanalytischen Literaturwissenschaft, Mentalitätsgeschichte, Sozialgeschichte, Rezeptionsästhetik, Kulturwissenschaft, Literarischen Anthropologie und Medienwissenschaft.

Viele der selbstreflexiv bestimmten Beiträge (etwa die Einträge "Geistesgeschichte", "Germanistik", "Literaturgeschichte", "Literaturkritik", "Literaturtheorie" und "Literaturwissenschaft") lassen deutlich werden, dass heute trotz vielfältiger Bemühungen die Termini 'Literaturwissenschaft' und 'Kulturwissenschaft' weder in Begriff noch Gegenstand eindeutig zu definieren sind. Die kulturellen und ästhetischen Praktiken unterliegen einem permanenten und beschleunigten Wandel. Dementsprechend unterschlagen die einzelnen Beiträger auch nicht die latente Schwierigkeit, vor dem gerade ein Fach wie die Literaturwissenschaft steht: einerseits an überlieferte Wissenschaftsparadigmen anzuschließen, andererseits ihr Fachverständnis in unmittelbarer Konfrontation mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sowie der Pluralisierung und Mondialisierung der Kultur und ihrer historischen Voraussetzungen bilden zu müssen. Streng genommen gibt es 'Literaturdefinitionen' daher nur im Plural; sie stehen, wie Klaus Weimar zurecht hervorhebt, "in Konkurrenz miteinander, ohne daß jemals eine zu ihrer Zeit die einzige gewesen oder auch nur von einer Mehrheit akzeptiert worden wäre."

Wenn schon nicht außer Kraft gesetzt, so doch stark problematisiert werden in vielen Beiträgen der ersten beiden Bände die unter Kohärenzvermutung stehenden traditionalen Geschichts- und Texteinheiten - wie Epoche, Gattung, Werk und Buch. Vor allem die Artikel "Aufklärung", "Avantgarde", "Barock", "Empfindsamkeit", "Expressionismus", "Fin de siècle", "Frühe Neuzeit", "Goethezeit", "Gründerzeit" (aus Bd. I) sowie "Humanismus", "Impressionismus", "Klassik", "Moderne", "Naturalismus" und "Neuromantik" (aus Bd. II) bieten eine konzentrierte Re-Lektüre und Synopse vielfältiger Forschungsansätze bei gleichzeitiger Reflexion über 'Epochen' als theoretische Konstrukte der Geschichtsschreibung und "Produkte von Periodisierungs-Hypothesen", wie Michael Titzmann unter dem gleichnamigen Lemma zurecht vermerkt.

Zudem werden neben traditionellen Methoden eine Vielzahl von kontextorientierten Ansätzen in einem internationalen und interdiziplinären Zusammenhang vorgestellt. Dies hat zur Folge, dass eine ganze Reihe von Amplifikationen des 'Literarischen' diskutiert werden. So rückt etwa Monika Schmitz-Emans die Genese von "Computertexten" in die Nähe einer "Metapher poetischer Textgenese schlechthin", indem sie die Modalitäten, Resultate und Effekte maschineller Texterzeugung in den Rahmen philosophischer und ästhetischer Diskussionen über das 'Subjekt' der Erkenntnis stellt. Überhaupt wird in vielen Beiträgen eine Erweiterung des Ästhetik-Begriffs über die Grenzen einer philosophischen Ästhetik und einer Ästhetik im Sinne des stilvoll Schönen als einer Wertqualität und einer Wissenschaft von der Sinneserkenntnis vorgenommen. 'Ästhetik' wird dabei nicht selten als begriffliche Reflexion der ästhetischen Kultur insgesamt, einschließlich der Theorie der elektronischen Medien, aufgefasst. Besonders der in den letzten Jahren florierende Begriff des "Hypertext" eignet sich zur theoretischen Fundierung nicht-linearer Literaturmodelle ("Intertextualität") und zur Vermittlung kultureller Vernetzungen ("New Historicism"), wie Johannes Janota hervorhebt. Umfassend berücksicht und untereinander vernetzt werden neben den verschiedenen kultur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen auch neuere Entwicklungen wie Dekonstruktion, Dialogizität, Diskurs/Diskurstheorie, feministische Theorien und Gender-Forschung, Grammatologie, Intertextualität, New Historicism und Poststrukturalismus.

Insgesamt wird dabei deutlich, dass sich die Suche nach verschütteten Traditionslinien nicht nur intensiviert hat, sondern es im Rahmen der Wiederentdeckung und Neubewertung von literarischen Texten auch zu einer Korrektur des herrschenden Kanons, zur Erweiterung des Literaturbegriffs und zu einer Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Methoden der Literaturwissenschaft gekommen ist. Inge Stephan veranschaulicht dies in ihrem Beitrag zur "Frauenliteratur", indem sie die Frage nach einer "weiblichen Ästhetik" durch die Aufnahme der amerikanischen Gender-Diskussion, der französischen Ansätze zur 'écriture féminine', die Auseinandersetzung mit Psychoanalyse und Poststrukturalismus (Lacan, Foucault, Derrida) und die interdisziplinäre Öffnung zur Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte als wesentlich erweitert sieht. Dass auch dieser Ansatz mittlerweile schon mit Modifikationen zu kämpfen hat, zeigt Walter Erhart in seinem Überblick über die "Gender studies". Statt der feministisch besetzten Kategorien 'Frau' und 'Frauen' stehe nunmehr "die soziokulturelle Konstituierung der Geschlechterdifferenz selbst im Zentrum". 'Geschlecht' wird dabei als "eine vielfältige, sozial und kulturell konstruierte Größe aufgefaßt". "Diese neueste Entwicklung der Gender studies", so Erhart weiter, "führt deshalb zu einer kritischen Revision des Begriffs 'gender', der die historisch unterschiedlichen und zugleich sichtbar 'abweichenden' Formen der Sexualität und der sexuellen Orientierung stets in binäre zweigeschlechtliche Konzepte zwingt und so der prinzipiellen Instabilität der Geschlechtlichkeit nicht gerecht wird." Dieser Ansatz geht Hand in Hand mit der seit Beginn der 90er Jahre in der Feministischen Literaturtheorie hörbar werdenden Kritik an der poststrukturalistischen Weiblichkeitstheorie, die - wie Katrin Gut in ihrem Beitrag zur "Feministischen Literaturwissenschaft unterstreicht - in ihrem Rekurs auf Lacan und Derrida "keine Erneuerung des Feminismus zur Folge habe, sondern dessen 'postfeministische' Eliminierung".

Neben diesen reichlich theoriegesättigten Passagen kommen im RLW erfreulicher Weise aber auch die 'klassischen' Bereiche der Philologie wie Textkritik, Kommentar, Gatttungsfragen, Stilistik u.a.m. keineswegs zu kurz. Hier übertrifft das Lexikon seinen gewiss auch schon hochrangigen Vorgänger an Qualität und Quantität der Einträge. Das größte Verdienst des Lexikons liegt jedoch eindeutig in seinem klar strukturierten, siebengliedrigen Aufbau der Artikel: Die "Kopfzeile" (1) versucht eine kurze Vorabdefinition des folgenden Lemmas, die "Explikation" (2) unternimmt einen historisch verorteten Vorschlag, wie der Begriff in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft zu verwenden ist. Die daran anschließenden und nicht immer sauber zu trennenden Teile "Wortgeschichte" (3) und "Begriffsgeschichte" (4) informieren über Ursprung und Vielfalt der Bedeutungen sowie über die konzeptuelle Entwicklung des betreffenden Stichworts. Die "Sachgeschichte" (5) beschreibt die historische Entwicklung der heute mit dem explizierten Terminus bezeichneten Sache, die "Forschungsgeschichte" (6) skizziert die vor allem in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungslage zu dem betreffenden Lemma. Die abschließend gebotene knappe Zusammenstellung der einschlägigen Publikationen ("Literatur" [7]) verweist auf weitere Informationen zu dem skizzierten Thema.

Insgesamt betrachtet lässt sich das Lexikon als ein Echoraum vielstimmiger Ansätze lesen, die deutlich machen, dass mittlerweile auch die germanistische Literaturwissenschaft ihre disziplinäre Isolation hinter sich gelassen und sich der internationalen Entwicklung der Literaturwissenschaften insgesamt angeschlossen hat. Die hinter der Durchlässigkeit der Disziplinen sichtbar werdende kulturwissenschaftliche Ausrichtung ist diesem Verständnis nach nicht als Versuch zu werten, eine verlorengegangene Einheit des Fachs zu restituieren, sondern vielmehr eine Metaebene der Reflexion und eine Form der beweglichen Verschaltung bereitzustellen. Dieses Lexikon ist - mit Ausnahme des von Ansgar Nünning herausgegebenen "Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie" - eindeutig besser als alle vergleichbaren Unternehmungen. Lehrende wie Studierende des Fachs werden zukünftig auf dieses kompakte und kenntnisreiche Begriffswörterbuch wohl kaum verzichten können und wollen. In jedem Fall lässt es sich für den Leser 'zwischen den Stühlen' der Disziplinen sehr bequem sitzen.


Titelbild

Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I, A - G.
Mitherausgegeben von Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller.
De Gruyter, Berlin/New York 1997.
754 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110108968

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Titelbild

Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2, H-O.
Mitherausgegeben von Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar.
De Gruyter, Berlin/New York 2000.
777 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110156636

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