Queer Theory - ein Problemkind der Zwangsehe schwuler und lesbischer Politik

Annemarie Jagose führt in die Queer Theory ein

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich!, so möchte man ausrufen, wenn man Annemarie Jagoses Buch in der Hand hält. Denn eine Einführung in die "Queer Theory" fehlte in deutscher Sprache bislang. Ein zunehmend schmerzlicher werdendes Desiderat, zumal in der zweiten Hälfte des verstrichenen Jahrzehnts queer-theoretische Ansätze auch hierzulande an einzelnen Universitäten stärker an Bedeutung gewonnen haben, so etwa im Graduiertenkolleg "Geschlechterdifferenz & Literatur" an der Universität München.

Jagose, in Deutschland eine Unbekannte, lehrt feministische Theorie sowie Schwule und Lesbische Studien an der Universität Melbourne. Die Übersetzung des 1996 erschienenen englischsprachigen Originals darf im Ganzen als gelungen betrachtet werden. Eine kritische Bemerkung kann allerdings nicht unterbleiben: der englische Begriff "queer" wurde übernommen, da er - wie die HerausgeberInnen zu Recht betonen - nicht angemessen übersetzt werden könne und "mittlerweile das Wort so verbreitet" wäre, dass eine Übersetzung auch nicht notwendig sei. Umso unverständlicher ist, dass "gender" je nach Kontext mal mit "Geschlecht", mal mit "soziales Geschlecht" übersetzt wurde, gilt doch beides für diesen Begriff - ebenso wie auch für "sex" - in zumindest dem gleichen Maße.

Queer Theory, so erläutern die HerausgeberInnen im Vorwort, untersuche, wie Sexualität gesellschaftlich "reguliert" werde und selbst wiederum "andere gesellschaftliche Bereiche" beeinflusse und strukturiere. Ihr vorrangiges Anliegen sei, Sexualität "ihrer vermeintlichen Natürlichkeit zu berauben". So solle sie als "kulturelles Produkt" sichtbar gemacht werden, das "ganz und gar von Machtverhältnissen" durchsetzt sei. Intendiert werde hiermit letztlich die "Destabilisierung gesellschaftlicher Normen von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit".

Jagose gliedert ihre gut lesbar geschriebene Einführung in vier Komplexe, was aus den sieben Kapiteln allerdings nicht recht deutlich wird. Zunächst befasst sie sich mit den grundlegenden Aussagen von Queer Theory. Hieran schließen ein Abriss der bewegungsgeschichtlichen Entwicklung der theoretischen und politischen Ansätze der Schwulen- und Lesbenbewegungen zur Queer Theorie und Ausführungen zu ihrem engeren Entstehungskontext an. Queer, so Jagose in diesem historischen Teil, markiere "sowohl Kontinuität als auch den Bruch mit den früheren Homo-Befreiungs- und lesbisch-feministischen Konzepten". Es sei, wie sie Susan Hayes prägnante Formulierung zitiert, ein "Problemkind", das aus der "Zwangsehe lesbischer und schwuler Politik" hervorgegangen sei. Auf akademischer Ebene sei der Einfluss unübersehbar, den "postmoderne Auffassungen von Identität, Geschlecht, Sexualität, Macht und Widerstand" auf Entstehung und Inhalte von Queer Theory habe. Vor diesem Hintergrund sei queer als nahezu "unvermeidliches Phänomen" entstanden.

Den Abschluss des Buches bildet eine angesichts des umfangreichen Themas zwar knappe, jedoch nicht oberflächliche Übersicht der zahlreichen und unterschiedlichen Diskussionen, Differenzen und Dissonanzen zwischen schwulen und lesbischen Positionen sowie feministischen Ansätzen mit queeren Theorien, aber auch denjenigen innerhalb der Queer Theory selbst. Diese Kontroversen werden insbesondere unter AktivistInnen - weniger unter AkademikerInnen - zum Teil sehr giftig ausgetragen. Queer sei "der Feind", meint etwa ein Leserbriefschreiber einer australischen Schwulen-Zeitung. Wenn er 'queer' höre, greife er zur "Kalaschnikow".

Im Ganzen halten sich Darstellung und Erörterung der bewegungspolitischen Aktivitäten und der akademischen Theorien in Jagoses Buch die Waage. Allerdings vermisst man eine eingehendere Frage nach dem doch sicher intendierten Wahrheitsgehalt oder Erkenntnisanspruch queerer Theorien, der ja zumindest im akademischen Bereich nicht ganz ohne Belang sein sollte. Auch äußert sich Jagose mit keinem Wort zur erkenntnisstiftenden Methode von Queer Theory. Stattdessen richtet sich ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die Frage, ob die verschiedenen Positionen queerer TheoretikerInnen politisch progressiv oder reaktionär sind.

In einem Nachwort weisen die HerausgeberInnen unter anderem auf Publikationen der letzten fünf Jahre hin und verschaffen einen Eindruck der deutschsprachigen Rezeption der Queer Theory.

Titelbild

Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung.
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Corinna Genschel, Caren Lay, Nancy Wagenknecht und Volker Woltersdorff.
Querverlag, Berlin 2001.
220 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 389656062X

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