Umdornt von Vorurtheilen bleiben die Frauen Fremdlinge der Menschheit
Birte Giesler untersucht die Beziehung zwischen Dohms "Schicksalen einer Seele" und Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahren"
Von Arnd Beise
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHedwig Dohm (1833 - 1919) war lange nahezu vergessen, oder allenfalls wenigen als Großmutter Katia Manns ein Begriff, welche die Romane ihrer Oma für "nicht sehr aktuell" hielt. Inzwischen haben aber Feministinnen Hedwig Dohm als eine der radikalsten Kämpferinnen für die Rechte der Frauen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder bekannt gemacht und auch ihre damals viel gelesenen Romane und Novellen als lohnende Objekte wissenschaftlicher Analyse neu entdeckt.
Vor einigen Jahren legte Gaby Pailer eine Untersuchung zum erzählerischen Werk von Hedwig Dohm vor ("Schreibe, die du bist", 1994), die Romane und Novellen ästhetisch und philologisch zum ersten Mal wirklich ernst nahm. An diese Untersuchung schließt die vorliegende Arbeit an. Giesler untersucht darin die bisher noch nicht eingehend untersuchten intertextuellen Bezüge zwischen Dohms Roman "Schicksale einer Seele" (1899) und Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795).
Der ständige Bezug auf tradierte Texte des Kanons war generelles Kunstprinzip Dohms, das allzu lange als eklektizistisch oder plagiatorisch abgetan wurde. Tatsächlich aber handelte es sich um ein produktives Verfahren, das eigene Anliegen durch den intertextuellen Bezug auf bekannte Prätexte schärfer zu konturieren; im Fall der "Schicksale einer Seele" im Wesentlichen kontrastiv. Bezüge auf Goethes Roman werden auf der Figuren- und Handlungsebene wie auch auf formaler Ebene unter die Lupe genommen.
Sowohl die Ich-Erzählerin als auch ihre Tochter werden in dem Roman mit Mignon verglichen oder vergleichen sich selbst mit ihr. Mignon als nach Heimat sich sehnende Fremde und als ihr eigener (Todes-) Engel; als Kind, das keine Frau werden kann, darf oder will und in dem Moment stirbt, da sie es wird; Mignon also wird in Dohms Roman zum Vor-Bild für die Situation der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft: "Umdornt von Vorurtheilen bleiben sie Fremdlinge der Menschheit, und leben ein fremdes, nicht ihr eigenes Leben; arme Luftschifferinnen, die man nicht landen läßt, wo blühende Gestade ihnen winken. [...] Und darum ist das Wesen fast aller begabten Frauen unserer Zeit Sehnsucht und Melancholie".
Im Gegensatz zu Dohms Roman eines Scheiterns erzählt "Wilhelm Meisters Lehrjahre" die letztlich erfolgreiche Sozialisation eines männlichen Subjekts. Beide Hauptfiguren haben ähnliche Neigungen und Kindheitserinnerungen, aber die folgende Gegenläufigkeit der beiden Entwicklungsgeschichten macht die Chancen-Ungleichheit von Frauen und Männern in der bürgerlichen Gesellschaft besonders deutlich. Während Goethes Wilhelm zuletzt ein nützliches Mitglied der Gesellschaft wird, wird Dohms Marlene zunächst konsequent gehindert, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, bevor sie am Ende aus allen bisherigen Bindungen herausfällt. Während Wilhelm Meister am Ende seiner Identität sicher sein kann, ist Marlene Buchers Identität zuletzt "ungewisser als je zuvor. Allerdings hat sie die Erkenntnis gewonnen", so Giesler, "daß ihre bisherige ,Identität' auf Zuschreibungen zurückging, die sich keinesfalls aus ihrem Wesen ableiten lassen, und daß niemand weiß, wer oder was sie ist".
Die Erzählsituation der beiden Romane ist daher spiegelbildlich konstruiert. Während die auktoriale Erzählinstanz bei Goethe einen erfolgreich verlaufenden Individuationsprozess von objektiver Warte aus schildern kann, berichtet die Ich-Erzählerin in Dohms Roman aus subjektiver Perspektive über ein fremdbestimmtes Leben, bis sich die Erzählerin am Ende sogar "als faßbare Erzählinstanz und als Figur" auflöst und der entleiblichte Zweifel einer Kaskade von Fragen übrig bleibt. Dohms Roman besteht nämlich aus zwei nacheinander angeordneten, in der Fiktion aber als gleichzeitig entstanden gedachten Brief-Konvoluten, wobei die Nachtbriefe die rollenkonforme Selbstvergewisserung einer fraulichen Identität in den Tagbriefen widerlegen.
An dieser Stelle zeigt sich aber ein Problem intertextuell argumentierender Analysen überhaupt. Die Allusion schon des Titels "Schicksale einer Seele" auf die "Bekenntnisse einer schönen Seele" in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" mag im Licht der Einzelbezüge auf Figuren- und Handlungsebene plausibel sein: auf formaler Ebene realisiert sich der Bezug zwischen beiden Romanen aber allenfalls als Negation. In vielerlei Hinsicht sei Dohms Roman "ganz anders" als Goethes Roman, erklärt uns Giesler. Macht es aber dann noch Sinn, von intertextuellen Bezügen zu sprechen, wenn man nicht nachweisen kann, dass die Beziehung explizit als negative markiert ist? Dass der Hypertext also das erkennbar gewollte Gegenteil des Hypotexts ist, und nicht einfach nur ein anders gestrickter Text?
Diesen Nachweis bleibt Giesler meines Erachtens schuldig. Sie weicht stattdessen auf die allgemeinere Ebene der "Gattungs- und Systemreferenz" aus, untersucht also die Frage, ob es sich bei Dohms "Schicksale einer Seele" um einen Bildungsroman handelt, wofür "Wilhelm Meisters Lehrjahre" das in der Literaturwissenschaft unbestrittene Paradigma ist. Beide Romane machen die "Spannung zwischen Sozialisation und Individuation" zum Thema, in Goethes Fall kommt es zur "Versöhnung zwischen Ich und Welt", in Dohms Fall steht am Ende keine harmonisierende Lösung, sondern die Einsicht in die "Aussichtslosigkeit, den herrschenden Mustern, die die Subjektivität zuschütten, zu entkommen". Insofern ist Dohms Text eher ein Anti-Bildungsroman, und als solcher vermag er in der Tat "für etliche Bruchstellen und blinde Flecken im Gattungsparadigma" zu sensibilisieren, wie Giesler schreibt. Im ersten Teil der Arbeit führt sie überzeugend vor, wie die Anverwandlung und Verkehrung der Goethe'schen Vorbilder in Dohms Text nicht nur das Schicksal ihrer Protagonistin profiliert, sondern auch rückwirkend uns zum Beispiel für das Opfer Mignons, also die "Festschreibung, den Ausschluß und den Untergang der Weiblichkeit auf Wilhelm Meisters Bildungsweg" sensibilisiert. Im zweiten Teil der Arbeit wäre die formale Destruktion des Gattungsparadigmas aber noch genauer am Text zu zeigen, wenn mehr als der genannte vage Bezug auf ein allgemeines Schema herauskommen soll.
Insgesamt jedoch führt die Arbeit auf angenehm belehrende, dabei mitunter sogar unterhaltende Weise vor, wie viel mehr sich über Literatur und ihre Machart erfahren lässt, wenn dem ästhetischen Verfahren mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie etwa Dohms inhaltlichem Engagement für die Frauenbewegung, das bisher die Untersuchungen zum Werk der Autorin eindeutig dominierte. Nach Lektüre von Gieslers Buch ist man sich jedenfalls sicher, dass es sich bei ihren Texten keineswegs um "Triviales mit frauenliebendem Ende" (Heike Soltau) handelt, sondern um geschickt komponierte Artefakte, die aus der selbst erfahrenen Krise des weiblichen Subjekts und der Unmöglichkeit einer authentischen Sprache einen Begriff vom Text als in jedem Fall uneigentlichen Text ableiten, der notwendig als "Plagiat" auftritt. Vielleicht wirkt unter diesem Aspekt manche Kunst von Frauen ,moderner' als die der zeitgenössischen Männer, überlegt Giesler am Ende. Manche Fragen Dohms findet man in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich noch relativ selten (in der französischen Literatur allerdings sind sie selbstverständlich): "Wo fange ich an? Wo hören die Anderen in mir auf? Ich weiß es nicht [...], wir Menschen alle sind Palimpseste, und unser ganzes Leben ist ein Mühen um die Entzifferung der Urschrift". Heute allerdings fragen sich viele, ob es die Urschrift überhaupt gibt - in diesem Punkt besaß Dohm allerdings noch das idealistische Vertrauen einer Bürgerin des 19. Jahrhunderts.