Wasserleichen trinken keinen Kaffee

Ein Buch über das Sterben, den Tod und das Leben

Von Helmut KretzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Kretzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Symbolgehalt von Schnecken und ihre Bedeutung in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte beschränkt sich auf ihre sprichwörtlich geringe Geschwindigkeit. Diesem Missstand verschafft der gebürtige Oberösterreicher Andreas Renoldner in seinem neuen Roman Abhilfe. Für die Geschichte wurde dem Autor das Staatsstipendium 1999/2000 zuerkannt, ein bereits zuvor erschienenes Hörspiel mit demselben Stoff wurde mit dem Preis der Alfred Gesswein-Stiftung ausgezeichnet.

Es ist ein merkwürdiges Buch im besten Sinn, das dort beginnt, wo andere enden: mit dem Tod des Helden. Des Lebens überdrüssig, hat er am Ufer eines Sees Selbstmord verübt, indem er sich dort zum Schlafen legt, bevor Bäche den Wasserspiegel steigen lassen: "Als du dich legst, zur Prüfung die verpackten Beine bis zu den Schenkeln ins Wasser streckst, spürst du weder Nässe noch Kälte. Später robbst du so weit hinunter, daß nur Schultern und Kopf nicht vom See bedeckt sind. Der Druck des Wassers auf deinem Körper wie eine schwere Decke. Sie beruhigt dich. Umfängt dich in Geborgenheit. So könnte es gelingen." Es gelingt tatsächlich, auch wenn der Erzähler es nicht gleich wahrhaben will. Von da an hat er einen Begleiter - eine Schnecke auf seiner Schulter gibt den Weg vor: Er solle sich in die Schindlau begeben, dort werde alles anders werden.

Der Weg von der Hetzau in die Schindlau - Metaphern für die Mühsal irdischen Daseins? - ist nicht nur ein geographischer, sondern erweist sich bald als Marsch durch einen Kanon menschlicher Tugenden, in alphabetischer Reihenfolge von A bis Z, darunter Demut, Ehrfurcht, Ehrlichkeit, Fleiß, Freundlichkeit, Gehorsam usw. Auf seinem Weg erhält der Du-Erzähler Gelegenheit, Menschen in ihrem ländlichen Umfeld bei ihren täglichen Verrichtungen, ihrer täglichen Mühsal, ihrem Kummer, Streben und Scheitern zu beobachten. Der Marsch wird auch zu einer Reise durch das eigene Ich, die persönliche Lebensgeschichte des Protagonisten lässt sein eigenes Versagen Revue passieren.

Ein großes Thema, an das sich Renoldner da heranwagt und das er mit Bravour meistert: ohne übergroßes Pathos, unspektakulär, aber nicht ohne Humor. Die Grenze zwischen Leben und Tod wird durchlässig bei Renoldner, trotzdem lässt er keine pseudoreligiöse Jenseitsstimmung aufkommen. Der Held bereut nichts und bleibt auch gegenüber der rätselhaften Schnecke respektlos. Rühren kann ihn nur das junge hübsche Unfallopfer Maria. Die junge Frau ist noch so im Leben verwurzelt und kämpft so lange um eine Rückkehr in die Welt der Lebenden, bis die Wiederbelebungsversuche erfolgreich sind. Für den Helden gibt es zwar keine Läuterung, für die Leser aber eine überaus anregende und bereichernde Lektüre.

Titelbild

Andreas Renoldner: Als ich von der Hetzau in die Schindlau ging. Roman.
Edition Atelier, Wien 2000.
178 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3853080561

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