Eine danebengegangene Beziehung

Birgit Vanderbekes Erzählung "Alberta empfängt einen Liebhaber"

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn wir ein klein wenig mehr vom Küssen verstanden hätten, hat Nadan später einmal gesagt, als er ratlos war, weil wir gerade gemerkt hatten, daß rückwirkend küssen nicht geht. Auch dann nicht, wenn man etwas davon versteht. Dann schon gar nicht."

Alberta und Nadan, die beiden Hauptpersonen in Birgit Vanderbekes Erzählung "Alberta empfängt einen Liebhaber", stecken in der verfahrenen Situation des Nicht-küssen-Könnens, die das Motiv für die ganze Beziehung der beiden ist. Alberta: "Wenn wir mehr davon verstanden hätten, hätten wir es wahrscheinlich eine Zeitlang gemacht, und dann wären wir in schönster Eintracht auseinandergegangen, statt uns immer wieder dazwischenzufahren. Auseinandergehen ist etwas anderes als Danebengehen. Das reinste Idyll dagegen", Albertas und Nadans erstes und beispielhaftes "Danebengehen", spielt sich während eines Trainingslagers zur Zeit des Vietnamkrieges ab. Die beiden sind da ungefähr 15 Jahre alt. Frei nach dem Motto 'Make love not war', sammelt eine Gruppe von Jugendlichen Erfahrungen mit dem Küssen. Alberta und Nadan bleiben jedoch außen vor. Während einer Nachtwanderung fallen die beiden in eine Grube, verlieren den Rest der Gruppe - und die Orientierung, setzen sich schließlich auf einen Fichtenstamm und schweigen sich an.

Alberta wollte von Anfang an das Küssen, aber nur mit Nadan, und weil Nadan nicht küßte, tat sie es auch nicht. Wahrscheinlich ist, daß Nadan nur nicht küßte, weil Alberta es nicht tat. Die beiden sind in einer Zwickmühle: Keiner von beiden ist in der Lage, den ersten Schritt zu tun; es ist selbstverständlich für den einen, daß der andere anfangen muß. Beide warten also auf den Moment, in dem es von selbst passieren würde. Obwohl Alberta und Nadan sich immer wieder in geradezu 'klassischen' Szenen (wie hier bei der Nachtwanderung) befinden, bleiben sie unfähig, sie zu nutzen. Gerade das Bewußtsein um diese idealtypischen Situationen macht es den beiden unmöglich, unbefangen zu handeln, oder überhaupt noch irgendetwas zu tun.

Und da sitzen sie nun (wie es ihnen vorkommt) eine Ewigkeit auf der Fichte. "Und saßen. Und immer noch weitersaßen. Und sitzen noch. Bis zum Jüngsten Tag." Alberta ist hoffnungslos; vor allem auch deshalb, weil die beiden sich ihr ganzes Leben über in mehr oder weniger klassischen Situationen befinden, und sie doch eigentlich die ganze Zeit über schon wissen, daß sie nie darüber hinauskommen werden. Es gehört zum "Und sitzen noch", zum ewigen Weitersitzen. Alberta kommt ins Reflektieren: "Es gibt Momente, in denen das Leben plötzlich anhält, weil es sich verschluckt hat. Es verschluckt sich, hält an und hält die Luft an, es hält eine ganze Weile die Luft an und weiß nicht, wie es weitergeht, und schließlich atmet es aus, und bis es den Rhythmus findet, könnte man denken, daß es vergessen hat, wie es sich atmet, aber dann atmet es wieder durch und geht weiter. Aber es hat einen Moment lang angehalten, und etwas bleibt verschluckt und in den angehaltenen Augenblick eingesperrt, es bleibt zurück und kann nicht mehr aus dem Moment heraus und mit dem Leben mit, wenn es durchatmet und dann weitergeht."

Diese drei Satzgefüge verbildlichen allein durch das Sprechen ihren Inhalt: Verschlucken - Luft anhalten - weiter atmen. Sie halten, mit diesem Bild, den Atem, (mehr noch:) das Leben an und atmen schließlich aus, leben weiter. Doch etwas bleibt verschluckt. Alberta: "Und ich hatte noch anderthalb Stunden Zeit, mich zu schämen."

Alberta sitzt also mit Nadan auf dieser Fichte und will ihn küssen, aber es kommt ihr komisch vor. Nur zu gut läßt sich ihr Gedankengang nachvollziehen: Zum Küssen fehlt die Entschlußkraft, obwohl es situationsgemäß eigentlich unvermeidlich wäre und auch gewollt; dann wird es "unpassend und zweifelhaft", später "anrüchig" und schließlich "leicht unappetitlich". "Es kommt vom Denken", sagt Alberta. Und damit steht sie im krassen Gegensatz zu den von Hera Lind und anderen vermittelten Romanheldinnen, die unabänderlich zur Sache schreiten, zum ,Höhepunkt' (auch des Romans). Alberta ist nicht einfach deshalb auf` 'Wolke Sieben', weil sie neben Nadan sitzt; im Gegenteil, er wird ihr lästig. Schließlich ist er der Grund, warum sie da sitzt und friert und sich "verschluckt" fühlt. Albertas Leben spielt sich eben nicht in klassischen Situationen ab; fast könnte man bei den beiden sogar von einer Art Allergie reden, denn immer, wenn es passend wäre, geht alles schief. In der von den Medien idealisiert dargestellten Welt werden uns diese Situationen quasi als richtig und bewundernswert aufgezwungen. Aber die Menschen sind keine Romanheldinnen und -helden, keine 'Superweiber' und keine 'bewegten Männer'. Alberta und Nadan merken genau, daß sie dafür einfach die falsche Besetzung sind. Sie können damit nicht umgehen und deshalb sträuben sie sich auch bewußt und unbewußt dagegen und versuchen, sich irgendwie aus der Sache zu stehlen, sobald ihnen das Idealtypische der Situation klar geworden ist. So ist Albertas Sorge auch nicht, die Situation zu retten, sondern sie möglichst elegant zu beenden. Die beiden sitzen da und schweigen, und es ist einfach nur Schweigen, nichts weiter, und je länger sie schweigen, desto schwieriger wird es, überhaupt noch etwas zu sagen. Alberta sucht nach einer 'Zauberformel gegens Küssen', das Küssen, das in der Luft liegt, muß verhindert werden. Ihr fällt ein Buchtitel ein: ",Lieben Sie Brahms?`" Und an diesem Satz bastelt sie so lange herum, bis sie eine für sie ideale Fassung gefunden hat: "Wie findest du eigentlich Brahms?"

Man muß das einmal aus Nadans Sicht betrachten: Da sitzt er neben einem Mädchen, und sie schweigen so lange, daß sie nicht mehr wissen, was sie überhaupt noch sagen könnten, und dann fragt sie ihn: "Wie findest du eigentlich Brahms?" Nadan hat den Entstehungsprozess dieses Satzes nicht mitbekommen, und so ist er für ihn auch keinesfalls "salopp und graziös" und formal ideal. Er kann damit schlicht und einfach nichts anfangen. Aber er ist geistesgegenwärtig genug, um darauf überhaupt eine Antwort zu haben und nicht einfach verdutzt weiterzuschweigen: "Die Stones mag ich lieber". Und er antwortet damit so stilistisch unpassend zu Alberta, wie man nur kann. Alberta verwendet die Chiffre "Brahms", um etwas Bedeutungsvolles zu sagen, und nicht, weil sie sich für Nadans Musikgeschmack interessiert - und Nadan antwortet mit den "Stones".

Eines ist sicher, so hat sich Alberta nicht die Wirkung ihres Satzes vorgestellt, aber damit haben die beiden die sicherste "Zauberformel gegens Küssen" gefunden.

Titelbild

Birgit Vanderbeke: Alberta empfängt einen Liebhaber. Roman.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 1999.
117 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3828600190

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