Annäherung an das Fin de siècle

Jens Malte Fischer über Phänomene der Jahrhundertwende

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Münchener Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer entfaltet in einem gut lesbaren Stil ein eindrucksvolles Panorama vom "Fin de siècle". Unter dem Begriff der Décadence umkreist er die Phänomene der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs - jener Epoche, in der sich ein genuines Endzeitgefühl breit machte, zu dem auch das Gefühl gehörte, dass vieles faul sei in den Staaten Mitteleuropas. Es entstand das Bedürfnis, sich nationaler Identifizierung zu entziehen. Man fühlte sich abgestoßen durch staatliche Macht und imperiale Kraftentfaltung und sah sich vom gründerzeitlichen Erbe der Väter "mehr belastet als gesegnet". Alles, was die Katastrophe des 20. Jahrhunderts bestimmte, wurde damals bereits diskutiert. Doch die Kraft zu großen Entwürfen fehlte.

Schon vor der Jahrhundertmitte wurde der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts von Melancholie- und Schwermutsanzeichen begleitet, und obwohl die Künstler gerne in den Großstadtcafés beisammen saßen, kannte man damals schon virulente Großstadtkritik, die einen Unbekannten zu folgendem Vierzeiler motivierte: "Fasse wo immer die Menschheit beim Schopf, / Überall macht sie dir Schmerz; / In der Kleinstadt verkümmert der Kopf, / In der Großstadt das Herz."

Nicht zufällig ist Gustav Mahler die zentrale Einzelgestalt in Fischers Buch, nicht so sehr als Komponist von heute weltweitem Ruhm, sondern als seismographisches Genie, das die Erschütterungen der Zeit, das unterirdische Beben verspürte wie andere sensitive Künstler dieser Epoche auch.

Aber man verbrachte seine Zeit nicht nur zwischen Schreib- und Kaffeehaustisch, Theaterfauteuil und Lotterbett - die Künstler der Jahrhundertwende waren keineswegs (wie Fischer in mehreren Beiträgen betont) nur "dekadente Gehirntiere" -, sondern wussten auch mit Fahrrad und Tennisracket umzugehen. Karl Kraus und Gustav Mahler, dessen inbrünstige Naturverehrung tief in sein kompositorisches Schaffen reichte, waren geübte Schwimmer. Richard Beer-Hofmann, Alfred Kerr und Arthur Schnitzler machten mehrwöchige Alpenwanderungen - auch das, versichert uns der Autor, gehöre zum Bild der Epoche.

Dennoch war Gustav Mahler, der seine Frau Alma gezwungen hatte, das Komponieren aufzugeben, damit sie sich ganz ihm widmen konnte, vielen Gemütsschwankungen ausgesetzt. In einer Krisenstimmung wandte er sich einmal an Sigmund Freud. Im August 1910 kam es dann zu einem gemeinsamen mehrstündigen Spaziergang durch die niederländische Stadt Leiden. Eine denkwürdige Begegnung, "eine Begegnung zwischen dem Napoleon des Wiener Musiklebens und dem Goethe der Seelenkunde", merkt Fischer an. Als Mahler ein Jahr später starb, machte Freud bei dem Nachlassverwalter einen Honoraranspruch von 300 Kronen an den Verstorbenen geltend - wegen einer mehrstündigen Konsultation in Leiden.

Mahler war, konstatiert Fischer, ein dreifach Heimatloser, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude unter allen Nationen der Erde.

Mit antisemitischen Kampagnen war Mahler, der später zum Katholizismus konvertierte, schon als 25-jähriger konfrontiert worden - in seiner Kasseler Kapellmeisterzeit. Wie aber stand er selbst zu seiner jüdischen Herkunft? Wie die meisten assimilierten Westjuden seiner Zeit, habe er Vorurteile gegen Ostjuden gehabt und seine eigene jüdische Herkunft als Belastung empfunden. Er habe sie zwar nie versteckt, aber sie habe ihm auch "keine Freude gemacht".

In weiteren Kapiteln beleuchtet Fischer den komplexen Zusammenhang zwischen assimiliertem Judentum, Ostjudentum, Antisemitismus und Zionismus und untersucht das Bild des Juden in der Literatur um 1900, wobei er ausführlich auf einzelne Autoren und Werke eingeht (wie etwa auf Max Nordaus Trauerspiel "Doktor Kohn"), die heute nahezu unbekannt sind.

Das Resümee dieser Untersuchungen fällt deprimierend aus, war doch der Antisemitismus damals weit verbreitet, nicht nur bei einem Heinrich von Treitschke, sondern auch in den Büchern angesehener Autoren Gustav Freytag, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane. Nicht wenige Juden steigerten sich in einen Selbsthass hinein. Auch dieser Problematik hat Fischer ein eigenes Kapitel gewidmet. Außerdem befasst er sich mit bürgerlicher Möblierung und künstlerischer Selbstinszenierung, mit "Verführung und Erlösung in der Oper der Jahrhundertwende", mit Wagners Oper "Parsifal", dem umstrittensten, meistgedeuteten und rätselhaftesten Werk des Komponisten - "ein Alters- und Abschiedswerk besonderer Art" - sowie mit dem "Ersten Weltkrieg und den Intellektuellen", wobei Fischer geschickt Anekdoten und kleine Geschichtchen mit Kommentaren und Analysen verbindet und sich als ein für unsere Zeit erstaunlich umfassend gebildeter und belesener Autor erweist.

Da der Band aus Aufsätzen besteht, die aus unterschiedlichen Anlässen für verschiedene Publikationsorgane zwischen 1979 bis 1997 geschrieben und veröffentlicht wurden, kommt es häufig zu Überschneidungen und Wiederholungen. Gleichwohl bietet das Buch eine facettenreiche Annäherung an das vorletzte Fin de siècle.

Hin und wieder wagt Fischer einen Vergleich mit der letzten Jahrhundertwende. Zu den Décadence-Erscheinungen im gegenwärtigen Fin de siècle zählt er Naturzerstörung, plattesten Materialismus, Primitivität, Vulgarität und Banalität. Vor hundert Jahren sei es dagegen ein Signum der Décadence gewesen, "sich gegen eben diese Phänomene, die es ja damals schon gab, zu richten, heute besteht sie allumfassend aus eben diesen."

Außerdem existierten damals Interdependenzen zwischen bildender Kunst und Literatur in München und in Berlin, in Wien wiederum spielten Oper und Konzerte eine größere Rolle. Heute trifft man sich nur noch bei Buchmessen, Schriftstellerverbandstagungen und Büchnerpreisverleihungen. Von einer Kultur künstlerischer Geselligkeit könne in unseren Tagen mithin keine Rede mehr sein. Stattdessen habe sich die Kulturindustrie überall breit gemacht, deren Präludium allerdings schon bei Oscar Wilde und Gabriele D'Annunzio erkennbar sei.

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Jens Malte Fischer: Jahrhundertdämmerung. Ansichten eines anderen Fin de siecle.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000.
312 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3552049541

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