Kein wissenschaftlicher Hamlet

Peter von Matts alte Studie über "Literaturanalyse und Psychoanalyse" in neuer Auflage

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Liebesverrat" ist ihm nicht vorzuwerfen. Vom allseits beliebten "Freud-Bashing" keine Spur. Im Gegenteil. Wenn der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt über die Psychoanalyse schreibt, spürt man: So schreibt ein Liebender. Einer, der Freuds Werk stets auf seine besten Möglichkeiten hin interpretiert. Der leidet, wo er, einem strengen Vater gleich, Irrwege und Grenzen der Literaturanalyse aufzeigen und etwa jene unseligen Schüler und Nacheiferer Freuds bloßstellen muss, die, "nur von einer Idee beseelt, gleichsam mit mächtigen Botanisiertrommeln aus tausend Büchern Sexualsymbole sammelten."

Wenn man so will, waren von Matts "grundsätzliche[] Überlegungen über das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Psychoanalyse" bereits obsolet bei ihrem ersten Erscheinen. Waren doch 1972 die vor allem von Frankreich und Amerika ausgehenden Transformationen von Psycho- und Literaturanalyse bereits abzusehen. Dass von Matt sein jetzt erfreulicherweise vom Reclam Verlag neu aufgelegtes Plädoyer für eine "Rückkehr zu Freud" auch drei Jahrzehnte später nicht um all die Ausdifferenzierungen und Fortentwicklungen im Namen Jacques Lacans, Julia Kristevas, Melanie Kleins oder Heinz Kohuts aktualisiert hat, ist jedoch heute so wenig ein Fehler wie damals.

Natürlich ist der Einführung die Entstehungszeit anzusehen - jene Zeit, als im Umkreis der Studentenbewegung gefordert wurde, die Literatur aus der Isolierstation, in die die werkimmanente Germanistik sie jahrzehntelang eingesperrt hatte, herauszuholen und sie wieder der alles andere als keimfreien Realität auszusetzen.

Die frühen 70er waren auch die Zeit der Wiederentdeckung Freuds im deutschen Sprachraum. Daran hat nicht zuletzt von Matts verdienstvolle Studie ihren Anteil, in der auch einige der Ursachen für die weitgehende Ignorierung Freuds in den "Geisteswissenschaften" nach 1900 aufgezeigt werden. Damals wie heute vermag von Matts Einführung, Berührungsängste abzubauen und das in Freuds Texten unverändert schlummernde Potenzial für die Literaturwissenschaft bewusst zu machen. Denn: "Sigmund Freud hat das Lesen verändert. In der Geschichte dieser vielleicht wichtigsten kulturellen Tätigkeit hat er einen qualitativen Sprung bewirkt, der historisch so bedeutsam ist wie einst in der Spätantike der Übergang vom lauten zum stummen Lesen." Seit Freud weiß man oder kann man wissen, dass Literatur, frei assoziierend gelesen, viel über das Unbewusste im Menschen offenbart. Nicht nur Träume, auch literarische Texte können zu seiner Erforschung eine via regia sein. Und wollte man unbedingt Mängel in von Matts liebenswerter Studie aufzeigen, so wäre der wichtigste vielleicht dieser: Dass der Literaturwissenschaftler keinen Blick dafür hat, dass Freud nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben verändert hat: Nach Freud schreiben Autoren, von denen nur wenige die Psychoanalyse ignoriert haben, anders.

Dafür lassen sich viele der in der Literaturwissenschaft später beliebt gewordenen Fragestellungen, die Entdeckung des Lesers und der Wirkungsgeschichte, der Trivialliteratur oder der Bedeutung von Emotion, Lust und Spiel, in von Matts Studie wiederfinden. Von Matt versteht die Applikation der psychoanalytischen Methode auf die Literatur nicht wie viele Nachfolger Freuds (und oft genug auch dieser selbst) als Möglichkeit, sich als Analytiker auf Kosten der Literatur zu legitimieren. Vielmehr plädiert er konsequent für eine Psychoanalyse als Hilfswissenschaft, mit der Literaturwissenschaftler den ästhetischen Text gerade nicht zum bloßen psychopathologischen Dokument eindampfen oder nur als "medizinisches Symptom einer traumatisch belasteten Seele" verstehen: "Das private Seelenleben Schillers kann und darf mir auch als einem Germanisten gleichgültig sein." Vielmehr sollen mit Hilfe der Psychoanalyse von der traditionellen Germanistik unbeleuchtet gebliebene psychische Dimensionen sichtbar gemacht werden.

Von Matts Literaturverständnis ist ganzheitlich, es umfasst Autor, Text und Leser zugleich. Möglich wird dies durch das von der Forschung leider nur selten aufgegriffene Konzept des "psychodramatischen Substrats". Von Matt postuliert mit ihm die Existenz einer ödipalen Grundstruktur, die sich, so oder so geformt, in literarischen Texten wiederfinden lasse und deren Erkenntnis zum Verständnis der Texte beitrage: In diesem Substrat spiegeln sich Urkonflikte wider, die sich auf einige wenige Grundkonstellationen zurückführen lassen. Von Matt beschreibt sie am Beispiel von Dramen Schillers, Kleists, aber auch Dürrenmatts und Frischs: "Entweder wird die Vaterfigur umgebracht oder nicht. Wenn sie umgebracht wird, wird das Schuldpotential entweder ökonomisch abgeleitet (wie im 'Tell') oder es zersetzt und zerstört den oder die Mörder (wie im 'Wallenstein'...)." Wird der Vater nicht umgebracht, bedeutet das die Kapitulation des aufständischen Sohnes: "Er kann es tun durch Versöhnung, Unterwerfung, pathetische Identifizierung (wie im 'Prinzen von Homburg'...) oder indem er sich selber an Stelle des Vaters umbringt" wie im "Michael Kramer". Dass solche Einsichten nicht nur von Freud, sondern auch von der aufständischen Studentenbewegung und ihrem Wunsch nach Vatermord angeregt waren, ist anzunehmen.

Kunst und Literatur bestimmt von Matt nicht etwa als kompensierende "milde Narkose", wie es ein pessimistisch gewordener Freud gegen Lebensende tat. Sondern als Fest, als gebotenen Exzess, als feierlichen Durchbruch eines Verbotes, als Skandal: "Und entsprechend ließe sich dann auch das Komplementärphänomen zum Kunstskandal erfassen: der Vorgang der Domestizierung der Kunst, die Fabrikation von allseitig gerundeten, auf feste Begriffe gebrachten und aller Sprengkraft beraubten Klassikern; der Bau und der streng geregelte Betrieb großer Museen. Es ist wohl nicht nur in der Angst vor Dieben begründet, wenn sich unsere Museen mit ihren eisernen Türen, uniformierten Wächtern, Alarmanlagen und der Entwaffnung der Besucher im Eingangsraum von Gefängnissen gelegentlich nur noch durch die bevorzugte Lage in der Stadtmitte unterscheiden." Was hier domestiziert werden soll, sind in Wahrheit, wie von Matt im Anschluss an den Freud-Schüler Hanns Sachs formuliert, "gemeinsame Tagträume", die Stimulation von Autor und Leser übergreifenden narzisstischen Wunschphantasien, deren unerwartetes Erscheinen beim Lesen den ästhetischen Schock begründet.

Derlei anregende Reflexionen finden sich viele in dem schmalen, doch gewichtigen Buch. Mit Recht erklärt es am Ende alle Methodendiskussion für sekundär: "Denn die systematische Analyse der eigenen Erkenntnisbedingungen enthält stets die Gefahr, dass einer ein wissenschaftlicher Hamlet wird, der vor lauter subtilen Monologen über die eigene Methode gar nie zum Handwerk kommt." Ein solcher Hamlet ist aus Peter von Matt, wie man weiß, nicht geworden. Die großen Bücher, die ihn später bekannt gemacht haben, sind in diesem kleinen vorgezeichnet.


Titelbild

Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Durchgesehene, um ein Nachwort erweiterte und bibliographisch aktualisierte Neuausgabe.
Reclam Verlag, Stuttgart 2001.
154 Seiten, 5,10 EUR.
ISBN-10: 3150176263
ISBN-13: 9783150176269

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