Geheimgänge, Hintertüren und Abkürzungen

"Short Cuts” im Labyrinth der Systemtheorie Niklas Luhmanns

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theorien, Supertheorien zumal, werden traditionell mit mehr oder weniger komplexen, mehr oder weniger unzugänglichen Gebäuden verglichen. Oder gleich mit Labyrinthen, für die sich nicht nur kein Ausgang, sondern, gerade für den Anfänger, häufig nicht einmal ein Eingang angeben lässt. Dem frustrierten Anfänger riet Niklas Luhmann einmal: "Um praktische Vertrautheit mit Theorien, eigenen oder fremden, zu erlangen, darf man sich nicht nur an die großen, einladenden Portale halten, durch die jedermann eintreten kann. Bei weiterem Vordringen stößt man auf andersartige, auch funktionale Einrichtungen, die der Stabilisierung des Ganzen, der Verteidigung der Errungenschaften, oder der Erleichterung interner Beweglichkeit und Einfallsproduktion dienen. Da gibt es Dunkelkammern, in denen man nur nach längerer Eingewöhnung etwas sieht. Nicht selten ist das der Ort, an dem der Theoretiker seine inneren Erfolge hatte und von dem aus er sich in seiner Konstruktion sicher fühlen kann. Und man ahnt, dass es Geheimgänge geben müsse, die die Insassen rascher als den Kritiker zu neuen Argumenten führen, findet Scheintüren, an denen man sich vergebens abmüht, und richtige Türen, die sofort wieder nach draußen führen."

Keine Scheintüren, sondern eine nützliche Sammlung solcher Geheimgänge, Hintertüren und "Abkürzungen" für die Erkundung von nur schwer gangbaren Theoriegebäuden bietet eine neue, "Short Cuts" betitelte Reihe, die bei Zweitausendeins erscheint. Nach den Worten der Herausgeber soll "Short Cuts" keine einführenden Grundrisse bieten, sondern "Ansätze, Hypothesen und Blitzlichter, die das eigene Denken erhellen: Essays, Manifeste, Essentials, Briefe, Interviews und Statements". Erschienen sind in der Reihe bereits Bände zu Clément Rosset, Michel Foucault und Gilles Deleuze.

Der erste Band widmet sich aber einem der größten Labyrinthkonstrukteure überhaupt, eben Niklas Luhmann. Neben vergleichsweise bekannten Texten wie dem eine atemberaubende ästhetische Qualität entfaltenden Aufsatz "Was ist Kommunikation?" oder dem aufschlussreichen Interview "Biographie, Attitüden, Zettelkasten" präsentiert das Büchlein einige verstreut, vor allem in der "F.A.Z." zwischen 1985 und 1995 erschienene Texte, Gelegenheitsarbeiten, in denen sich Luhmann aktuellen Problemen widmet: dem Zusammenhang von Fußball und Nationalismus etwa, den Protestbewegungen oder anlässlich des Protestes gegen die Versenkung der Brent-Spar-Plattform der Frage, wie Unternehmen von der Öffentlichkeit lernen können.

Wer diese Texte heute liest, wird feststellen, dass sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Im Gegenteil. Die knapp ausgegangene Bundestagswahl 1994 etwa regte Luhmann zu systemtheoretischen Reflexionen über die Frage an, warum in modernen Gesellschaften das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Opposition zunehmend ausgeglichener wird: "Wenn die Verteilung der politischen Kräfte auf Regierung und Opposition von derart geringfügigen Differenzen abhängt (und ein paar Prozente mehr oder weniger würden mein Argument nicht ändern), kann man nur den Schluss ziehen, dass das 'Volk' nicht gewählt hat. Es hat nur gewürfelt. Die Politiker sollten sich daher die Frage stellen, warum dies so ist." Das am Ende nur noch juristische Würfelspiel um die amerikanische Präsidentschaft hätte Luhmann wohl kaum überrascht.

Mit "Short Cuts 1" wird aber auch ein Zimmer bezogen, das in Luhmanns Theoriegebäude bislang demonstrativ leer blieb. Von "Kleinen politischen Schriften" à la Habermas hatte er ja nie etwas wissen wollen. Schön, dass es sie jetzt doch gibt.

Titelbild

Niklas Luhmann: Short Cuts.
Herausgegeben von Peter Gente, Heidi Paris, Martin Weinmann.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2000.
160 Seiten, 8,20 EUR.
ISBN-10: 3861503409

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