Weder Entweder-Oder noch Sowohl-Als auch sondern Weder-Noch

Das undisziplinierte Geschlecht in wissenschaftlichen Disziplinen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Disziplin steht seit der antiautoritären Bewegung in ebenso schlechtem Ansehen wie etwa Gehorsam. Zwar wurden sie noch von den väterlichen Blockwarten der 68er als Tugenden hochgeschätzt. Die technoseligen Töchter der seinerzeit umherschweifenden Haschrebellen indessen schätzen sie, aller sonstiger Differenzen ungeachtet, ebenso wenig wie einst die heutigen Apo-Opas.

Undiszipliniert sein hingegen riecht verlockend nach Freiheit. Sicher haben Angelika Cottmann, Beate Kortendiek und Ulrike Schildmann hieran gedacht, als sie einen Sammelband mit dem vielversprechenden Titel "Das undisziplinierte Geschlecht" herausgebracht haben. Bei dem undisziplinierten Geschlecht handelt es sich natürlich um die Frauen. Daran dürfte auch niemand gezweifelt haben, bevor er den Untertitel "Frauen- und Geschlechterforschung. Einblick und Ausblick" wahrgenommen hat. Frauen aber, so weiß man, genießen zwar formal gleiche Rechte wie Männer, de facto aber weniger Freiheiten. Wie also ist der Titel zu verstehen? Die Herausgeberinnen spannen ihn in ein Gefüge von drei Bedeutungen. Zum einen verweise er tatsächlich darauf, dass Frauen weniger Freiheiten zugestanden werden. "Soziale Abweichungen", so stellen die Herausgeberinnen fest, "werden weitgehend geschlechterspezifisch definiert und sanktioniert." Daher assoziieren sie mit dem 'undisziplinierten Geschlecht' zum Ersten "geschlechtsspezifische Disziplinlosigkeit in Form sozialer Abweichung". Die zweite intendierte Assoziation bezieht sich darauf, dass das 'undisziplinierte Geschlecht' "das wissenschaftlich ausgeblendete Geschlecht" sei, denn den Wissenschaften ist, wie man weiß, der Mann nicht nur das Maß aller Menschen, sondern der Mensch schlechthin. Drittens und letztens, so die Herausgeberinnen, heben die Angehörigen des 'undisziplinierten Geschlechts', insofern sie feministische Wissenschaftlerinnen sind, die disziplinären "Erkenntnisbeschränkungen durch undisziplinierte Interdisziplinarität" auf. Leider bleibt es bei einem Großteil der hier versammelten Beiträgen diesbezüglich jedoch beim bloßen Anspruch. Zwar gewähren sie meist gelungene Einblicke in ihre jeweiligen Wissenschaften, doch reichen ihre Aussichten kaum über sie hinaus. Das macht schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis deutlich: "Geschlechterforschung in der Sportwissenschaft", "Das 'undisziplinierte Geschlecht' in der Behindertenpädagogik", "gender based medicine" oder "Frauen und Geschlechterforschung in der Soziologie".

Wirklich interdisziplinär hingegen geht es in dem lesenswerten Aufsatz der in Köln lehrenden Professorin für Design Uta Brandes zu. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ihr wissenschaftliches Fachgebiet nicht nur eine "transitorische Disziplin" ist, die zwischen Theorie und Praxis changiert. "Auf Zukunft gerichtetes Design", so wie Brandes es versteht und betreibt, sei zudem eine "undisziplinierte Disziplin." Mit ihm will sie die "sich in der poststrukturalistischen, psychoanalytischen, (radikal-)konstruktivistischen Theorietradition verstehenden Ansätze" praktisch transzendieren, da diese selbst "das Empirische, die Fertigkeiten und Praktiken überhaupt nicht mehr zum Gegenstand von Wahrnehmung, Erkenntnis und Interpretation werden" ließen. Das ist zwar nicht ganz zutreffend, man denke etwa an die von Butler propagierte parodistische Aufhebung der Geschlechtsidentitäten. Dennoch ist ihre These innovativ und spannend. Sie belässt es nämlich nicht bei der Feststellung, dass "gesellschaftliche Tendenzen" bestehen, die in "männlich" und "weiblich" zweigeteilte Geschlechterpolarität "zugunsten von Androgynie (männliche und weibliche Anteile in einer Person)" zu verschieben, sondern behauptet zudem, "dass sich zukünftig eine dritte Möglichkeit zwischen Entweder-Oder und dem Sowohl-Als auch abzeichnen könnte: ein Weder-Noch". So könnte die Geschlechterpolarität ebenso negiert werden wie Androgynität und eine neue Vorstellung "jenseits aller bisher gültigen Zuschreibungen und Klassifizierungen" geboren werden. "Vollkommen andere Dazwischen-Beziehungen" würden möglich, die "alle bekannten Raster zum Einsturz bringen" könnten.

Das mag zwar nicht nur für viele abschreckend und für einige verführerisch, sondern für alle mehr als utopisch klingen. Doch Brandes verspricht ausdrücklich kein Utopia der "Versöhnung", sondern deutet auf ein "Modell" voraus, in dem die Geschlechtertrennung lediglich "aufgehoben" wäre. Der hegelianisierende Terminus mag kein Zufall sein.

Titelbild

Angelika Cottmann / Beate Kortendiek / Ulrike Schildmann (Hg.): Das undisziplinierte Geschlecht. Frauen- und Geschlechterforschung. Einblick und Ausblick.
Verlag Leske und Budrich, Opladen 2000.
289 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3810028452

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