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Friedrich Kröhnke schreibt über die sexuellen Obsessionen eines pädophilen Schriftstellers

Von Michael MesserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Messer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Tetanie der Mutter, die die Atterseekrankheit genannt wird und die dem Roman Friedrich Kröhnkes den Titel gab und sich durch den ganzen Text zieht, ist hervorgerufen durch einen Kalziummangel im Blut, eine Hypokalzämie. Sie steht aber auch für den seelischen Zustand der Mutter und der ganzen Familie, ausgelöst durch die ständige Präsenz von einer Überspanntheit und der permanenten Todesangst. Anna Sobota, die Sudetendeutsche Schriftstellerin, überträgt diesen Zustand auf ihre Zwillinge, Carl und Friz. Am meisten aber an den von ihr verzärtelten Friz, den Ich-Erzähler in dem Roman. Er erbt zwar von ihr nicht die Atterseekrankheit, aber zumindest doch ihre Nase, die Sobota-Nase, ihren Habitus, immer ist alles so schlimm und immer ist er so krank (bei Friz ist es das Herz, das entweder zu groß oder zu klein ist) und ihre künstlerischen Ambitionen: "Lesungen. Hotelzimmer, Taxis. Ich werde Dichter wie die Mutti."

Dagegen verkörpert der Vater gerade das Gegenteil, die bürgerliche Normalität eines Angestellte. Er, zwar auch aus Ostpreußen vertrieben, bildet mit seiner pflichtbewußten Gelassenheit einen Ruhepol in diesem von den Ausbrüchen der Mutter geprägten Familienleben. Diese ungewöhnliche Konstellation bietet Friz aber auch die Entschuldigung für seinen späteren Lebenswandel. Der Vater hat es schon immer gewußt: "Das alles kommt davon, Mutti, daß du die Zwillinge mit ins Bett genommen hast."

So wächst Friz heran: in der scheinbar heilen Welt des Neubaugebiets am Rande Darmstadts, das immer als die Stadt der Künste chiffriert wird. Er und sein Bruder gehen zunächst immer den gleichen Weg, sind die unzertrennlichen Zwillinge, die sich gegenseitig Halt und Sicherheit geben. Sie lesen gemeinsam Schillers "Räuber" und den "Don Carlos", gehen gemeinsam in die Vorzeige- und Honoratioren-Schule der Stadt, von der sie auch gemeinsam, ihrer politischen Umtriebe wegen, verwiesen werden. Es ist die Zeit, in der die Studentenbewegung Darmstadt erreicht hat, leicht verspätet, aber die Zwillinge stehen an vorderster Front, obwohl sie gerade einmal 14 Jahre alt sind. Sie agitieren und polarisieren die Stadtherren und versuchen gemeinsam die SPD zu unterwandern. Fortan gelten sie als linke Revoluzzer. Doch jetzt trennen sich die Wege der Brüder: Friz wird als Aktivist der Trotzkisten in Bochum "gebraucht".

Zustände der Enge und der Angst vor dem Eingeschlossensein begleiten ihn in dieser Phase des Heranwachsens. Die Geschichte der verunglückten Bergarbeiter von Lengede oder das Ausharren der Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in den Anden prägen den Jungen. Vielleicht erklärt sich so der Wunsch des Erzählers, ein Leben abseits der Norm zu führen. Deshalb schafft er es auch nicht, einer geregelten Arbeit nachzugehen, sondern schlägt sich mit Gelegenheitsanstellungen und dem ohnehin schon knappen Geld seiner Geliebten und besten Freundin Esther durch. Deshalb auch können seine Beziehungen zu den einzigen zwei Frauen, die er geliebt hat, Evelyn und Esther, nicht von Dauer sein. Und deshalb auch sind seine immer zahlreicher werdenden Liebesbeziehungen zu jüngeren Knaben nie besonders eng und gehen selten über das reine sexuelle Verlangen hinaus. Schwer liegen die über 400 Seiten von Friedrich Kröhnkes Roman in der Hand. Und ein Eindruck von Schwere hinterläßt auch die Lektüre. Ein Bildungs- und Entwicklungsroman soll es sein, das betont Friz, die Hauptfigur, auch selbst: "Ich war in diesem Jahrhundert Deutschlands einziger, letzter Junge, dessen Leben den Gesetzen und der Romantik der Bildungs- und Entwicklungsromane folgte!" Das sind selbstbewußte Worte und zunächst hat der Roman auch viel von einem Entwicklungsroman und einem Dokument der Nachkriegsjahre in Deutschland. Doch der Erzähler hat mit seiner schnellen Promotion, Anfang zwanzig, schon den höchsten Grad der Bildung erreicht. Von diesem Zeitpunkt an steigt er immer weiter hinab in die Niederungen der Sexualität und des Knabenstrichs - in allen Erdteilen und großen Städten. Als weltreisender Müßiggänger seiner Sucht nach dem Ejakulat minderjähriger Knaben frönend läßt er nichts mehr aus; Namen und Orte werden austauschbar. Friz verliebt sich schnell in immer neue Jungen, jede Nacht mit einem neuen Freund wird zur definitiv schönsten Liebesnacht in seinem Leben. Vielleicht ist es auch wieder die Enge, die ihn aus Deutschland verschwinden läßt, als hier gerade die Teilung der beiden Staaten aufgehoben wird und rasante Veränderungen sich ankündigen. Aber immer wieder taucht die verloren geglaubte Esther auf. Warum gerade sie sich als die einzige Frau neben seiner Mutter behaupten kann, wird nicht klar, denn scheinbar macht er keine Unterschiede in seiner unbedingten und nie enden wollenden Liebe, ob es nun Evelyn, Esther oder die Knaben sind.

Getrieben wird Friz schließlich nur noch von der Sehnsucht nach dem nächsten sexuellen Höhepunkt und muß am Ende selbst einsehen, daß von seinem Leben nichts bleiben wird, außer ein paar kurzen Geschichten, die niemand lesen will, und der Schuld, für die er irgendwann einmal bezahlen muß. Sein Lebenswerk ist sein Tagebuch, in dem er alle seine Erlebnisse notiert. Es ist an Esther adressiert.

Dabei bleibt Friz dem Leser ein unsympatischer Held. Zu geschwätzig und zu affektiert breitet er seine homoerotischen Eskapaden aus. Wärend das Leben von Nebenfiguren in kurzen Absätzen erschöpfend und umfassend erzählt wird, baut der Erzähler um sich selbst einen Berg aus Worten auf. In der kurzen Beschreibung von Esthers Schwester steckt noch so viel Raum, die Figur selbst auszufüllen: "Sie war so, wie ihr Vater es mochte, Nagellack und Dauerwelle, wollte ja auch nicht studieren, sondern sich im Einzelhandel hocharbeiten, war damals schon Filialleiterin eine Geschenkartikelkette und ist jetzt längst in der Trinkerheilanstalt." Schade, daß die Hauptfiguren mit Sätzen und Absätzen förmlich zubetoniert werden und keinen Platz mehr haben, sich zu entfalten. Schnell wird klar, worauf alles hinausläuft: Die sexuelle Abweichung von der Norm, das Klischees einer Künstlerbiographie, die alle erdenklichen Auswüchse erlaubt.

Titelbild

Friedrich Kröhnke: Die Atterseekrankheit.
Ammann Verlag, Zürich 1999.
440 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3250600172

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