Eine Welt von gestern - ein Mythos von heute?

Über Claudio Magris' "Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur"

Von Sven AchelpohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Achelpohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ging dieses Jahr an den Triestiner Claudio Magris. Die Stifter würdigten damit neben dem Schriftsteller auch einen streitbaren Germanisten und Mitteleuropa-Experten, dessen 1963 erschienene Dissertation "Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur" nun in einer überarbeiteten Übersetzung erneut vorliegt.

Magris' Studie führte trotz der dort formulierten Kritik an der habsburgischen "Demokratie von oben" zu einer wahren k. u. k.-Renaissance und hat eine immer noch anhaltende Diskussion um die Zukunft Mitteleuropas angeregt. Retrospektiv lässt sich in Magris' Debüt auch die Keimzelle für das literarische Werk des Triestiners finden, da Themen wie Identitäts- und Sinnstiftung im säkularen Nichts der Moderne bereits in der Habsburger-Studie berührt werden. Entsprechend verschiebt der Autor im neuen Vorwort "Dreißig Jahre danach" den Fokus vom ursprünglich literaturwissenschaftlichen Impetus auf das numinose Genre des "autobiographischen Essays". Magris als sein eigener Leser immunisiert sich damit gegen eine erneute Kritik an der zweifelhaften Ausgangsthese der Studie, die in der österreichischen Literatur das stille Fortwirken eines habsburgischen Mythos zu entdecken glaubt. Weniger eine Arbeit am Mythos, was freilich eine selbstreflexive Tätigkeit wäre, als vielmehr eine fortwährende Arbeit des habsburgischen Mythos konstatiert der Autor entlang eines Zeitprofils, das von Maria Theresia bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht. Argumentativer Dreh- und Angelpunkt ist die gescheiterte 1848er Revolution in Wien, die für alle nachfolgenden Schriftstellergenerationen eine Versöhnung mit der Dynastie einläutete und zu zahlreichen literarischen Apotheosen derselben führte. Zusätzliches Profil erlangt die anachronistische "höhere Idee" (Werfel) des dynastischen und zugleich supranationalen Staates durch die Gegenüberstellung mit der deutschen Ideologie des Nationalstaates. Kronzeugenstatus für das Auf- und Fortleben des Mythos beanspruchen neben Joseph Schreyvogel, Grillparzer und Stifter auch Spätgeborene wie Doderer und Rezzori. Selbst die innere Emigration des Ästhetizismus, also beispielsweise Hofmannsthals imperiale Gebärde des "meine Welt in die Welt hineinbauen", tradiert nach Magris den politischen Immobilismus der desillusionierten Vormärz-Literaten. Der teilweise polemische Tonfall des Autors lässt somit keinen Zweifel daran aufkommen, dass seine Untersuchung weniger eine Beschreibung als vielmehr die Zerschlagung und Entmythifizierung des habsburgischen Mythos anvisiert.

Doch auch nach über dreißig Jahren bleiben die Ausgangsthesen des Buches problematisch. Zunächst scheint es fraglich, ob man einen klar umgrenzten Text- bzw. Literaturkorpus für die "österreichische" Literatur während der k. u. k.-Monarchie voraussetzen kann. Gerade vor dem Hintergrund des von Magris initiierten "Mitteleuropeismo" ist es verwunderlich, dass seine frühe Studie nur die deutschsprachige "Leitkultur" berücksichtigt. Welches Licht fiele auf den habsburgischen Mythos, wenn beispielsweise ein "habsburgischer Slowene" wie Ivan Cankar mit einbezogen worden wäre? Überhaupt scheint der Mythos-Begriff theoretisch unterbeleuchtet zu bleiben. Der Autor spricht in seinem neuen Vorwort davon, dass seine Studie den habsburgischen Mythos zumindest in Italien erst erschaffen hat und dieser Golem nun nicht mehr aufzuhalten sei. Doch ist eine Remythisierung in der Moderne unmöglich, da die gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht mehr existieren. Der Verlust der Grundlagen für eine Gesamtschau, aus der heraus Weltinterpretationen geliefert und kollektive Identitäten gestiftet werden, ist auch für Musils "Kakanien" nicht von der Hand zu weisen, weshalb Magris' habsburgischer Mythos beschnitten um seine soziale Funktion kaum mehr als ein Mythos bezeichnet werden kann. Unbestritten ist sicherlich die mythopoietische Kraft der Literatur, doch zementieren ähnliche Motive in der österreichischen Literatur nicht notwendigerweise einen Bloch'schen Herrenmythos, sondern nähren vielleicht gerade aus ihrer Distanz zur Wirklichkeit eine subversive "Neue Mythologie", in der ein utopischer Bildrest eingeschlossen liegen mag. Aufzuzeigen wäre, inwieweit gerade durch Arbeit am habsburgischen Mythos die Literatur sich vom Bann der "grandiosen Statik" der Donau-Monarchie emanzipierte. So reizvoll auch Magris' These von einer spezifisch habsburgischen "ästhetischen Oikumene" ist, der Preis dafür ist eine biedermeierliche Butzenscheibe, hinter der die gesamte österreichische Literatur im Indifferenten verschwimmt.

Titelbild

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000.
414 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3552049614

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