Heiß und innig oder: Höhepunkte der Weltliteratur

Zwei erotische Lesebücher - nicht nur zur Bettlektüre

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anthologien können eigentlich nie befriedigen. Jede und jeder Lesende wird irgend etwas anderes vermissen, was seiner oder ihrer Meinung nach unbedingt zum Thema und somit in eine Textsammlung gehören würde. Sie sind immer irgendwie unvollständig, müssen sich zwangsläufig auf der Oberfläche bewegen, taugen gerade mal für den Ferienkoffer oder als Verlegenheitsgeschenk. Insofern ist es ein ziemlich mutiges Unterfangen - zumal in Zeiten der Sexschwemme auf allen Kanälen, in allen Medien, auf jeder Plakatwand - Anthologien über Erotik auf den Markt zu bringen und dabei auch noch zu glauben, diese würden gekauft geschweige denn gelesen. Erfreuen oder ärgern können da höchstens noch Vor- oder Nachworte.

Trudel Meisenburg und Janett Reinstädter jedenfalls haben ihre Sammlung von "Höhepunkten der Weltliteratur", genauer: über das "erste Erkennen" zweier Partner bzw. über "das erste Mal" in ein Nachwort münden lassen, das dadurch besticht, daß es sich nicht nur im Vokabular ("narrative Inszenierungen") und theoretisch auf der Höhe der Zeit befindet, sondern deutlich machen kann, daß und wieso auch inhaltlich auf neuere Perspektiven geachtet wurde. So haben die beiden Wert darauf gelegt, daß es in ihrer Textsammlung auch Geschichten über homoerotische "erste Male" zu lesen gibt. Der Differenzkategorie race wird mit Özdamars Geschichte über die Unaufgeklärtheit eines türkischen Mädchens Rechnung getragen, und Gendertheoretikerinnen werden beglückt sein über den Geschlechtsrollenwechsel in Marguerite Duras "Echolos". Nach einer klassischen Kontaktanbahnung (älterer Mann ist entzückt vom schönen Anblick eines jungen Mädchens und spricht es an) kommt es hier zu einer gelungenen Rollenumkehrung, sobald es (für das Mädchen erstmals) 'zur Sache' geht. Als schwächlich, unterlegen und in Liebesleid verzehrt wird nicht das Mädchen, sondern der Mann beschrieben: "Seine Haut ist von prachtvoller Zartheit. Der Körper ist mager, kraftlos, ohne Muskeln, er könnte krank gewesen sein, nun auf dem Wege der Genesung, er ist unbehaart, ohne ein Zeichen von Männlichkeit mit Ausnahme des Geschlechts, er ist sehr schwach, er scheint der Willkür von Kränkungen ausgeliefert zu sein, leidend. Sie sieht ihm nicht ins Gesicht. Sie sieht ihn nicht an. Sie berührt ihn. Sie berührt die Zartheit seines Geschlechts seiner Haut, sie liebkost seine goldgelbe Farbe, das unbekannte Neuland. Er stöhnt, er weint. Er ist in einer erbärmlichen Liebe. Und weinend tut er es. Zuerst ist der Schmerz da. Dann wird dieser Schmerz genommen, wird umgewandelt, langsam herausgerissen, der Lust zugeführt, mit ihr vereint."

Nicht nur die Auswahl, sondern auch die Anordnung der Texte verraten intellektuellen Ehrgeiz: sie sind nicht einfach chronologisch angeordnet, sondern motivisch, und zwar nach dem Grad von Frivolität: Die hier versammelten literarischen "Höhepunkte" steigern sich von Geschichte zu Geschichte bis zur erotischen Klimax. Je weiter man lesend vordringt, desto mehr geht's zur Sache: Die Anthologie beginnt mit Texten über sexuelle Enthaltsamkeit. Ihnen folgen Geschichten von Frauen über Frauen, die ihre Jungfernschaft als Makel empfinden und alles tun, dieses 'Stigma' endlich loszuwerden. Es folgen Erzählungen über ältere Frauen als Verführerinnen unerfahrener Knaben. Da sie darin doch eher Meisterinnen sind, geht es hier bereits zumeist um lusterfüllte Augenblicke: "Und als ein Mann sah er die Sonne aufgehn". Abgelöst werden sie von Geschichten über mißglückte oder nicht vollzogene "erste Male", die jedoch der Erotik keinesfalls entbehren. Das Ganze mündet dann in Texte über wirklich lusterfüllte Momente, wobei die Lesenden am Ende schließlich in den intellektuellen Genuß des Nachwort und damit zu höheren Weihen gelangen, also das einmal Freigesetzte wieder sublimieren müssen. So entsteht - zumindest nach Freud - erotische Kultur.

Trotzdem hat auch diese Textsammlung, die doch so auf Originalität und political correctness bedacht ist, etwas Beliebiges. Angesichts der dann doch wenigen Texte aus ganz unterschiedlichen Zeiten lassen sich z.B. etwaige Tendenzen bestimmter Werke, Strömungen, Bewegungen, Epochen schwerlich nachvollziehen. Zumindest lustvolle Literaturwissenschaftler/innen müssen allein schon aufgrund dieser Tatsache unbefriedigt bleiben. Gerade zugunsten der political correctness geraten die Zeiten, Kulturen, Geschlechter ein wenig aus den Fugen. Sicherlich kann daraus auch ein produktiver Erotik-trouble entstehen, doch bleiben, ist das Buch erst einmal zugeklappt, immer noch viele Fragen offen. So fragt man sich etwa angesichts des Kapitels von Erzählungen über Entjungferung, ob über diese weibliche Erfahrung je aus der männlichen Figurenperspektive oder gar von männlichen Autoren geschrieben wurde. Im übrigen ist gerade dieses Kapitel eher traurig und ernüchternd in seiner Wirkung, also wenig erotisierend, und schon gar kein Aphrodisiakum, wie es zumindest der (selbst bei Reclam also nicht ernstzunehmende) Klappentext doch für alle Texte verspricht.

Was aber ist überhaupt Erotik und wieviel hat sie mit Sexualität zu tun? Inwiefern sollte man sie heute noch von Pornographie abgrenzen? Antworten auf diese Frage kann man näherkommen, wenn man sich mit dem zweiten erotischen Lesebuch dieses Sommers beschäftigt: "Heiss und innig" heißt es sinnig. Gleich im ansonsten etwas mageren Vorwort macht die Herausgeberin Bettina Hesse klar, was zumindest sie unter Erotik versteht: "Dem Mythos nach befruchtet der Wind die Urnacht, diese legt das silberne Ei in den Riesenschoß der Dunkelheit und heraus tritt Eros, ein Gott mit goldenen Flügeln. Eros bringt als Sohn des wehenden Windes und erstgeborener Gott ans Licht, was im silbernen Ei verborgen lag: nämlich die ganze Welt. Damit bewirkt er, daß Himmel und Erde sich begatten. Der Liebesgott hat einen Doppelgänger mit dem bezeichnenden Namen Himeros, Sehnsucht. Eros' Kräfte sind somit älter als das Menschengeschlecht und verbinden die sinnliche Liebe mit dem Geistig-Seelischen. Heute nennen wir sie Erotik [...]! Vielleicht ist es jene Verbindung von Eros und seinem Doppelgänger, der Sehnsucht, wodurch sich Erotik von Pornographie unterscheidet."

Erotisieren sollen die in ihrer Qualität äußerst unterschiedlichen Erzählungen von durchweg jungen, mehr oder weniger bekannten Autoren und Autorinnen (von Christoph Peters bis Anna Immergrün) wohl allesamt. Die sonstigen Kriterien der Auswahl bleiben jedoch eher im Dunkeln. Entgegen ihren im Vorwort dargebotenen Einsichten hat die Herausgeberin wohl doch lieber nach den Texten gegriffen, in denen es eher heiss und weniger innig (oder gar "geistig-seelisch") zur Sache geht. S/M-Liebhaberinnen und -Liebhaber werden auf ihre Kosten kommen. Von Sehnsucht ist allerdings auch in einigen Erzählungen die Rede. Und wenn man die Auswahl insgesamt als eine repräsentative ansehen wollte, so könnte man gar gewisse Gesetzmäßigkeiten entdecken: Um Sehnsucht, Wunschphantasien, flüchtige Begegnungen, Distanz, Abschiede geht es vor allem den Erzählungen der männlichen Autoren. So etwa bei Raphael Gaszmann, wo die Frauen schwebende, geheimnisvolle, kaum ahnbare, nicht greifbare Engelwesen sind. Oder bei Hansjörg Schertenleib, der in seiner Geschichte einen religiös-verklemmten Intellektuellen erotische Lesesaalbegegnungen ausphantasieren läßt. Und bei Friedhelm Karges greift ein sexhungriger Schauspieler zu einem wahrhaft filmreifen Trick, um seine Angebetete ins Bett zu bekommen. Er überredet sie, in einem Erotikdreh als seine Geliebte mitzuspielen: wirklich "abgedreht". So richtig "heiss und innig" geht es eigentlich nur bei den Schriftstellerinnen (außer bei Alissa Walser) zu, zum Beispiel bei Stephanie Menzinger...

Titelbild

Janett Reinstädter / Trudel Meisenburg: Das erste Mal.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
240 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3379016608

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Bettina Hesse: Heiß und innig. Ein erotisches Lesebuch.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
264 Seiten, 6,60 EUR.
ISBN-10: 3499225573

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