Anatomie der Vielfalt

S. N. Eisenstadt betont die gemeinsamen Wurzeln moderner Gesellschaften

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Moderne, die seit dem 16. Jahrhundert in Europa Gestalt anzunehmen begann, wurde lange fälschlicherweise als "richtige" Moderne betrachtet, zu der alle anderen Kulturen, die durch die europäische und später die amerikanische Expansion mit ihr in Berührung kamen, sich hin entwickeln würden. Das "Programm" der Moderne wurde aber in Europa durch einige spezifisch europäische Elemente geprägt, so durch den Einfluss der Antike und die vermeintlich darauf fußende republikanische Tradition seit der Renaissance, die traditionelle Verantwortlichkeit des Herrschers gegenüber einem höheren Gesetz, die Bedeutung des Individuums inklusive seiner ökonomischen Qualität, eine Tradition der Repräsentation und ihrer Institutionen sowie eine utopisch-eschatologische Suche nach einer idealen sozialen Ordnung. Das Fehlen dieser regionalen Faktoren ließ die Moderne vor anderen Hintergründen verschiedene Variationen erfahren.

Eisenstadt wählt die USA und Japan zu Objekten seiner Vergleiche. In Amerika gab es bekanntlich deshalb keinen Sozialismus, weil sich keine Fundamentalopposition zur bestehenden Gesellschaftsordnung bilden wollte. Während in Europa die sozialen Protestbewegungen es vermochten, ihre Ziele utopisch-ideologisch zu erhöhen, verbietet sich dies in den USA von selbst, da die bestehende Gesellschaft - "Amerika" - selbst als verwirklichtes Ideal verstehbar ist. Zudem wird mittels der Rhetorik vom "auserwählten Volk", was freilich nicht in europäischem Sinne ethnisch verstanden werden darf, die von den Gründervätern erstellte Ordnung religiös konnotiert. Über die Richtigkeit des Ideals "Amerika" ist man sich also einig - Streit entsteht nur über die Frage, wer denn nun der bessere Amerikaner sei. Politischer Streit als Auslegungsstreit über die Verfassung. Das lässt den amerikanischen Gerichten eine Rolle zukommen, die man in Europa nicht kennt: Sie entscheiden nicht nur darüber, was Recht ist, sondern auch was richtig und gut ist - im Sinne der Verfassung.

Das Aufzeigen dieser und anderer struktureller Unterschiede zwischen Europa und den USA ist bitter nötig, werden sie doch von amerikanischen Erfolgsautoren der Politikwissenschaften gerne ignoriert und Europa und die USA großzügig als "der Westen" zusammengefasst...

Mit Japan ist ein Land gewählt, das seit Ende des 19. Jahrhunderts die ökonomische Moderne erfolgreich angenommen hat, und in dem sich wirtschaftlicher Erfolg nicht, nach Weber, mit einem protestantischen Arbeitsethos verbindet. In Japan finden wie in den USA keine politischen Auseinandersetzungen statt, die die Gesellschaftsordnung selbst in Frage stellen. In diesem Fall aber nicht aufgrund einer ideologischen Gemeinschaft, innerhalb derer Auseinandersetzungen stattfinden, sondern aufgrund eines Mangels an utopischen Orientierungen. Politik wird auch hier nicht zur fundamentalen Opposition, sondern wird in großem Maße durch so genannte "Netzwerke", informelle Verbindungen also, gestaltet.

Eisenstadt (geboren 1923) ist Soziologe an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Ausführung zur "Vielfalt der Moderne" ist die Fixierung der Max-Weber-Vorlesungen, die der Autor 1997 in Heidelberg gehalten hat. Dieses Umfeld weist den systematischen Weg, der hier gegangen werden soll: Die moderne Anatomie zeitgenössischer Gesellschaften soll in soziologischem Rahmen aufgedeckt werden. Die Diskussion, zu der der Autor seine Ausführungen ausdrücklich als Beitrag verstanden haben will, weist darüber hinaus: Es geht um die Interpretationshoheit über die Welt nach dem Systemkonflikt, und zwei der eifrigsten Bewerber darum sind dem Leser gleich als Bezugspunkte genannt: Fukuyama und sein Postulat vom "Ende der Geschichte", sowie Huntingtons "Clash of Civilizations". Sie und andere haben einen regelrechten Markt für schlagwortartige Erklärungshilfen unserer komplexen Gegenwart geschaffen.

Um die Irrtümer der genannten aufzuweisen, erläutert Eisenstadt zunächst die Moderne als Phänomen aus der Sicht seines Faches. Das Ziel von Eisenstadts Vorlesungen ist es, aufzuzeigen, "dass wir in der gegenwärtigen Welt die gewiss nicht immer friedliche, oft in der Tat konflikthafte Entwicklung mehrerer Arten der Moderne beobachten." Man erahnt, wie sehr die europäische Idee einer modernen Gesellschaft an Europa gebunden ist, wie sich Elemente der Moderne unter anderen Voraussetzungen ganz anders gestalten, aus ihrem Fundus nach anderen Kriterien ausgewählt - mitnichten immer allesamt vorhanden sein müssen - und nach anderen Regeln kombiniert werden. Diese Differenzierungen schützen sowohl vor der Illusion globaler Konvergenz (Fukuyama) als auch vor dem Ziehen "kultureller" Gräben zwischen Gesellschaften, die nicht nur graduell verschieden sind, sondern auch graduell Gemeinsamkeiten aufweisen (Huntington).

Eisenstadts Vortragsstil ist von wissenschaftlicher Nüchternheit, er bleibt auf dem Boden der Soziologie und vergisst nicht, seine Thesen als "Zwischenbericht" laufender Arbeiten vor einem allgemeinen Geltungsanspruch zu bewahren. Das macht ihn zuweilen nicht leicht zu lesen, nimmt sich in seiner Selbstbeschränkung aber wohltuend aus gegen Versuche allzu allumfassender Argumentation, die zumal dort auf tönernen Füßen einhergeht, wo sie vom aktuellen Tagesgeschehen her argumentierend zwar eingängig zu lesen, aber wenig profund ist. Jene Profundität könnte aber - wenn man so will - Eisenstadts "Marktlücke" sein.

Titelbild

Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne.
Übersetzt und bearbeitet von Brigitte Schluchter.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.
246 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3934730124

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