Geisterbeschwörung

Zu Stephen Greenblatts Antwort auf die Frage "Was ist Literaturgeschichte?"

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Je grundsätzlicher bestimmte Fragen formuliert sind, desto allgemeiner und unverbindlicher fallen in der Regel die Antworten darauf aus. Wenn sie jedoch vom Doyen des New Historicism gestellt werden, kann man wenigstens eine unterhaltsame und anschauliche Präsentation des Weges dorthin erwarten. Und in der Tat langweilt Stephen Greenblatt, Professor für englische Literatur an der Harvard University in Massachusetts, seine Leser an keiner Stelle, wenn er ihnen anhand von vier Beispielen seine Vorstellung darüber nahe bringt, was Literaturgeschichte sei. Kokett liefert eine lebensgeschichtliche Anekdote den Einstieg in das Problem: der junge Greenblatt, belehrt vom älteren Kollegen - damals in Berkeley 1969. Schon hier ahnt er, was im Anschluss daran am Beispiel des Spätmittelalters gezeigt wird: Literatur hat soziale Funktionen, ist eingebunden in institutionelle Interessenzusammenhänge, und ihre Kenntnis verleiht einen bestimmten sozialen Status. Die Pointe hier: Wer als Angeklagter vor 400 Jahren seine Lesefähigkeit nachweisen konnte, unterstand der kirchlichen statt der weltlichen Gerichtsbarkeit Englands und entging damit in jedem Fall der Todesstrafe, die jene nicht kannte. Mit Francis Bacon dann opponiert Greenblatt gegen die Einschränkung des Literaturbegriffs nur auf die "schöne" Literatur und erkennt in ihm nichts weniger als einen Vorläufer der eigenen fächer- und kulturübergreifenden Programmatik seiner diskursanalytischen Position. Besonders aber fasziniert ihn an Bacon dessen These, Literaturgeschichte solle zum Ergebnis haben, dass "der literarische Geist jedes Zeitalters gleichsam von den Toten herbeigezaubert" wird. Die Beschwörung des "Genius Literarius" sei - so will uns Greenblatt weiter glauben machen - unumgänglicher Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Geschäfts. Jetzt ist es Shakespeares "Hamlet", an dem diese Mystifizierungstätigkeit ihr Modell findet.

Wer aus all dem nicht vollends schlau wird, dem sind in der zweiten Hälfte des Bändchens zwei weitere Aufsätze beigegeben. Der erste stammt von der britischen Literaturwissenschaftlerin Catherine Belsey, der zweite ist eine Methodenreflexion des Autors selbst. Belsey liefert in ihrem Beitrag zunächst eine kurze Einführung in das amerikanische Phänomen des New Historicism aus europäischer Sicht, um daran eine behutsame Kritik an einigen seiner Grundorientierungen anzuschließen. Sie bejaht zwar Greenblatts erweiterten Literaturbegriff, hält jedoch die auf dieser Basis gewonnenen Beschreibungen von Text-Kontext-Verhältnissen für unterkomplex. Zu homogenisiert erscheint ihr Greenblatts Kulturbegriff, zu wenig Spannung spüre er in der Sprache selbst, zu glatt gingen seine Beziehungsstiftungen zwischen den unterschiedlichsten Diskursen auf.

Greenblatt selbst macht sich dann in seinem abschließenden Aufsatz auf die Suche nach dem Stammvater seiner Methode - und findet ihn in dem von den Nazis vertriebenen Marburger Romanisten Erich Auerbach. Von ihm leitet er seine eigene Liebe zur Anekdote ab, die rasch zum auffälligsten Gestaltungsmerkmal des New Historicism wurde. Das Typische im Kleinen aufzufinden, vom Textfragment zur ganzen Epoche vorzudringen, in wenigen, scheinbar zufällig ausgewählten Textzeilen das historisch Charakteristische zeigen zu können - dies sei gleichermaßen sein eigenes wie auch Auerbachs Interesse, oder genauer: ihrer beider Schreibstrategie. Wieder hat diese Praxis den Charakter eines Zaubertricks, mit dem die "Geisterbeschwörung" gelingen soll, wieder ist es der je historische "Genius Literarius", über den der Zugriff auf die "dargestellte Wirklichkeit" in der Literatur erfolgen soll. Einzig das Problembewusstsein gegenüber der kanonisierten Privilegierung bestimmter Texte und fraglos gegebener Periodisierungen scheint Greenblatt zusammen mit dem nun offensiv vertretenen Eingeständnis, eben "Geisterbeschwörung" zu betreiben, von seinem Vorbild zu trennen. So ist auch die Zeit für Selbstkritik gekommen: die propagierte diskursanalytische Kanonüberschreitung des New Historicism sei letztlich nur eine erneute Kanonbestätigung gewesen. Ausgewählt wurde des Überraschungseffekts wegen entlegenes Textmaterial, das eben zu Shakespeare oder Marlowe passte und so eindrucksvoll Resonanzen und Verbindungen suggerierte. Ohne Zweifel ist es ja gerade der so produzierte anekdotisch-unterhaltsame Stil dieser Wissenschaftsprosa, der ihren Erfolg mitbegründet.

Daneben aber ist dieser Aufsatz Greenblatts eine liebevolle Rezension von Auerbachs Buch "Mimesis", das im türkischen Exil während des Zweiten Weltkrieges verfasst und 1946 erstmals publiziert wurde. Daran zu erinnern ist gewiss ein großes Verdienst, und die Art und Weise wie dies geschieht eine "Geisterbeschwörung", die bei allen, die Auerbach noch nicht kennen, vor allem zu einem Lust macht: Auerbach zu lesen.

Titelbild

Stephen Greenblatt: Was ist Literaturgeschichte? Mit einem Kommentar von Catherine Belsey.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhard Kaiser und Barbara Naumann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
100 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3518121715

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