Im Zeitraffer talwärts

Thomas Steinfelds Anthologie gibt Auskunft über das Alter

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der angesehene britische Gerontologe Tom Kirkwood erklärte den Lesern der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" neulich voller Zuversicht, wir Menschen seien aufs Leben programmiert, nicht aufs Sterben. Die Meinung, dass unsere Körper sich abnutzten, bis sie nach einem vorgegebenen Plan stürben, sei schon seit langem überholt. Denn die Forschung wisse heute, dass Altern weder unvermeidlich noch notwendig sei. Die 14 Beiträger der von Thomas Steinfeld herausgegebenen Anthologie "Einmal und nicht mehr" sind da anderer Ansicht. Für sie bedeutet Leben Altern. Für sie ist der unabwendbare Tod unsere gewisseste Zukunft.

Angesichts des bevorstehenden Jahrtausendwechsels hatte die Feuilletonredaktion der "Frankfurter Allgemeinen" die Idee, Schriftsteller und Gelehrte zu befragen, was Alter und Altern für sie bedeutet. Es beeindruckt, dass die Redaktion zu einem derart grundlegenden Thema ausgerechnet Schriftsteller zu Wort kommen lässt - und eben nicht medizinische Altersforscher, experimentierfreudige Gentechnologen oder volkswirtschaftliche Rentenexperten.

Thomas Steinfeld, der damalige Leiter der Literaturredaktion, empfindet Literatur als "älteste Hüterin des Wissens um die Stufen des Lebens" und Schriftsteller demgemäß als ausgewiesene Fachleute für das "inwendige" Altern. Dem Leser wird klar: bei den im vorliegenden Band versammelten Auftragsarbeiten handelt es sich um Expertenurteile.

Natürlich ist die Frage nach der Bedeutung des Alter(n)s allgemein genug gestellt, um von verschiedenen Autoren verschiedener Nationalität und verschiedenen Alters auch verschiedene Antworten zu erhalten. Und wie dieses schmale Buch zeigt, ist das so entstandene Stimmengewirr durchaus geeignet, das Phänomen Alter in seiner Komplexität zu beleuchten.

Es geht in den polyphonen Texten beileibe nicht nur um Krankheit, Angst und Einsamkeit, sondern auch um Glück und Erkenntnis. Manche Autoren beantworten die Frage wie in einem Zeitungsinterview vor dem unmittelbaren Hintergrund ihrer jeweiligen Lebenswelt. Henning Mankell etwa beklagt, dass man "heute in Europa ein ganzes Leben verbringen" könne, "ohne wirklich einen einzigen toten Menschen zu sehen". Monika Maron offenbart biografische Bekenntnisse aus der Perspektive eines alten Kindes und Robert Gernhardt betrachtet voller Neid, was bewunderte Künstler-Kollegen in frühen Jahren geleistet haben. "Jetzt oder nie schreibt man die 'Madame Bovary' oder die 'Blechtrommel', malt man die Sixtinische Kapelle aus oder das 'Frühstück im Freien'", sieht der dreißigjährige Gernhardt die Zeit verstreichen.

Andere Beiträge wiederum, etwa Seamus Heaneys Gedicht oder Jenny Erpenbecks Märchen, sind als Antworten auf die gestellte Grundfrage zu poetisch-vieldeutig und entziehen sich dadurch einer direkten Einordnung in die von ihren Nachbartexten vorgegebenen Gedankenstrukturen.

Die brillanten Aufsätze des Philosophen Odo Marquard und des Schriftstellers Hans Wollschläger hingegen lohnen für sich allein genommen die Anschaffung dieses Büchleins. Für Wollschläger ist der Prozess des Alterns "das langsame Erkalten und Leerwerden, der langsame Verfall aller schützenden Wahrheits-Illusionen". Auch Marquard erkennt das Alter als Zeit der Desillusionierung und stellt fest, dass sich zugleich Theoriefähigkeit und Schandmaulkompetenz entwickeln. Schandmaulkompetenz? Nun, so Marquard, im Alter kann man schamlos offen sein, darf unbesorgt in Fettnäpfchen treten, "weil man nicht mehr genug Zukunft hat, um wiedergetreten werden zu können."

Fraglos eine tröstliche Aussicht, aber dennoch muss Zweifel an der demographischen Stimmigkeit dieser These erlaubt sein. Denn auch das macht Steinfelds Anthologie klar: die Talfahrt unseres Lebens vollzieht sich im Zeitraffer. Und nicht nur die Jugend, sondern auch das Alter dauert heutzutage länger denn je zuvor.

Titelbild

Thomas Steinfeld (Hg.): Einmal und nicht mehr. Schriftsteller über das Alter.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2001.
141 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3421054495

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