An den Grenzen von Sprache und Leib

Don DeLillos Prosastück "The Body Artist" (Körperzeit)

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Say a body. Where none. No mind. Where none. That at least. A place. Where none. For the body. To be in. Move in. Out of. Back into. No. No out. No back. Only in. Stay in. On in. Still."

Samuel Beckett, "Worstword Ho" ("Aufs Schlimmste zu")

Für Helmut Heissenbüttel, der am 21. Juni 80 geworden wäre

Aus heiterem Himmel kam vor zwei Monaten dieser schmaler Prosaband von Don DeLillo auf den Markt, weltweit gleichzeitig mit seinen Übersetzungen. Hatte man sich, nach dem Großroman "Underworld", schon auf eine Wartezeit von mehreren Jahren eingerichtet, verblüfft jetzt, dass der Autor seinen bisher schmalsten Kurzroman herausgebracht hat.

Der Inhalt ist schnell erzählt. Die Eröffnungsszene zeigt ein Ehepaar beim Frühstück in einem Landhaus, Zeitung lesend, Radio hörend, sich unterhaltend, wobei das Augenmerk mehr dem gilt, was hinter oder unter dem Gesprochenen liegt, was unausgesprochen bleibt. Eine banale Alltagsszene zunächst, der ein Schnitt folgt, und zwar in Form eines Zeitungsaus-Schnitts: Ein Nekrolog auf einen Regisseur, Rey Robles (dem Mann aus der ersten Szene, wie schnell klar wird), der in New York überraschend Selbstmord begangen hat und seine viel jüngere Frau hinterlässt, Lauren, eine Performancekünstlerin. Die folgenden sechs Kapitel zeigen Lauren allein in dem Landhaus nahe New York, bei dem Versuch, allein mit diesem Suizid fertig zu werden. Oder vielmehr nicht ganz allein: Nachdem wir schon aus der ersten Szene von merkwürdigen Geräuschen in dem alten Haus erfahren haben, entdeckt sie einen verwirrten Mann in den oberen Stockwerken, einen harmlosen Irren, den sie nach einem früheren, tolpatschigen Lehrer "Mr. Tuttle" nennt. Sie versucht eine Zeitlang, mit diesem kaum sprachfähigen, eigenartigen Kind-Mann zu sprechen. Ehe sich aber der Eindruck einer Gothic Novel verstärkt, wird bald deutlich, dass dieser Mr. Tuttle eine Projektion Laurens ist, mit der sie versucht, die Situation ihrer tiefen Verstörung zu bewältigen. Parallel dazu versetzt sie sich allmählich, von gelegentlichen Anrufen von Freundinnen oder Anwälten unterbrochen, in die Lage, eine neue Performance auszuarbeiten, mit der sie ihren Körper an die Grenzen seiner Ausdrucksfähigkeit treibt. Im vorletzten Kapitel, einer Zeitungsreportage aus der Feder ihrer Freundin, die sie über ihre Auftritte interviewt, wird diese Performance näher beschrieben. Der letzte Abschnitt zeigt sie wieder allein in ihrem Haus ("Mr. Tuttle" ist verschwunden), wie sie sich ihrer Identität wieder etwas sicherer geworden ist.

Lessness (Losigkeit)

Soweit zum Inhalt. Eine Studie über Trauer, wenngleich keine psychologische Fallstudie. Angesichts der Ereignisarmut kein Roman, auch keine Novelle, weil DeLillo mit den beiden Zeitungsausschnitten gezielt die geschlossene Form durchbricht, auch keine klassische Short Story mit einer Klimax kurz vor dem Ende; dazu ist diese Etüde viel zu still, ja fast innerlich. Auffällig ist dabei insbesondere der Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten Teil, nach dem Nekrolog. Der erste Teil zeigt Sprache in ihrem "normalen" Funktionieren - als Alltagsgerede, unterhalb dessen die Gedanken abschweifen: "Sie saß da, trank ihren Tee aus und dachte, was sie dachte, an Erinnerungsspuren und aufflackernde Bilder und eine Freundin, die sie vermisste, all das schattenfleckige Zeug eines unteilbaren Augenblicks, wenn an einem normalen Alltagsmorgen der übliche menschliche Wahnsinn herrscht." Das Verhältnis der beiden Eheleute erscheint eigentlich ungestört. In ihrem freundlichen Schlagabtausch, in ihrem Sprach-Tänzeln um die jeweils abgezirkelten Sphären des anderen ("Du teilst die Sonntagszeitung auf") wird verwiesen auf alles, was subkutan in einer solchen Beziehung mitläuft, was nicht zur Sprache kommt. Nathalie Sarraute, die unlängst verstorbene Autorin des Nouveau Roman, hat in ihren zahlreichen Büchern versucht, all dies, was hinter der sprachlichen Oberfläche mitspielt, ans Licht zu bringen. Diesen Weg allein aber schlägt DeLillo nicht ein: er beobachtet auch mit äußerster Präzision die Alltagshandlungen, die die beiden miteinander und für sich unternehmen, und die Sinneswahrnehmungen, die sich bei Lauren einstellen. Wie sich später herausstellt, bildet diese Szene eine Art Konzentrat immer neuer Anläufe Laurens, haarklein die Schlüsselszene kurz vor dem Aufbruch Reys zu seinem Selbstmord zu rekapitulieren. Jedes belanglose Detail gewinnt schärfste Konturen, scheint mit Sinn aufgeladen zu werden und die Strukturen ihres Verhältnisses zu charakterisieren.

Der zweite Teil zeigt dann Sprache, könnte man sagen, wie sie funktioniert, wenn nichts mehr funktioniert. So wie für Lauren, die die Vergangenheit zu rekonstruieren versucht - und wir Leser erfahren nur von der letzten Szene, die sie mit Rey erlebte, praktisch nichts von der Zeit zuvor - die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben scheinen, kann sie sich buchstäblich auf keine Sinneserscheinung mehr verlassen, die von bloßer Beschreibung zu erfassen wäre. Autofahrend meint sie, während sie Nachrichten im Radio hört, einen Mann auf der Veranda seines Hauses zu sehen. "In diesem kleinen Zeitfleck, dieser Fliegendreckviertelsekunde hatte sie das Gefühl, ihn zu erkennen"; sie überlegt blitzartig, wer er sein könnte, aber dann, einen Wimpernschlag später: "Als der Wagen an dem Haus entlangfuhr, begriff sie im Abrollen einer vollen Sekunde, dass sie keinen sitzenden Mann vor sich hatte, sondern eine Farbdose, die auf einem wackligen Brett zwischen zwei Stühlen stand. Die weiß-gelbe Dose war sein Gesicht, das Brett seine Arme, und Geist und Herz des Mannes waren irgendwo in der Luft, schon vergangen in der Stimme des Nachrichtensprechers im Radio."

Wo aber bereits der schlichten Wahrnehmung der Boden unter den Füßen entzogen wird, können die sprachlichen Zeichen nicht haften und müssen neu gelernt werden. Dies geschieht, indem Lauren versucht, Mr. Tuttle zum Sprechen zu bringen. Zugleich lernt sie neu, ihren Körper als Ausdrucksmittel einzusetzen, Körper als Sprache. In dieser doppelten Bewegung kämpft sie darum, die Umrisse ihrer Identität zurückzugewinnen.

Mr. Tuttle steht dabei für Sprache als Schwundstufe, für Plappern, für Probe-Sprechen. Seine Lieblingsphrase ist "it is not able" - eine unübersehbare Hommage an Melvilles Bartleby, der in seiner Verstörtheit ständig den Satz "I would prefer not to" benutzt. Sprach Bartleby noch von sich selbst, ist Tuttle reines Objekt, von den Sachen und den Menschen herumgestoßen, jedenfalls scheint es so. Es stellt sich heraus, dass er nicht nur plappert, sondern auch ganze Dialoge wiedergeben kann, die Rey und Lauren geführt haben. Während Rey schon früher in dem Haus Tonbandaufnahmen für seine Skripts gemacht hat sowie, gemeinsam mit Lauren, für Bruchstücke seiner Autobiographie, versucht Lauren nun mit Hilfe eines Rekorders, Tuttle zum Sprechen zu bringen. Es ist an vielen Stellen schwer zu unterscheiden, um welche Bänder es dabei jeweils geht, zumal Lauren sich angewöhnt, überallhin einen Kassettenrekorder mitzunehmen und zu besprechen. In Tuttles Stimmenimitation imaginiert Lauren Rey sich, erschafft ihn quasi als einen bauchredenden Homunculus neu. Tuttle schwingt sich dabei zu Sprachläufen auf, die repetitiv um sich kreisen, sich stellenweise wie Beckett-Paraphrasen oder auch Parodien lesen, wo Un- und Tiefsinn ineinander übergehen:

"Being here has come to me. I am with the moment, I will leave the moment. Chair, table, wall, hall, all for the moment, in the moment. It has come to me. Here and near. From the moment I am gone, am left, am leaving. I will leave the moment from the moment."

Auf Lauren wirken diese Rezitationen befreiend, sie lacht. Er hingegen emittiert diesen Sprachstrom nicht wie ein Schizophrener, aber auch nicht gequält, eher bleich und still, der Schrecken und die Auflösung des Selbst lugen gleichsam um die Ecke.

"Coming and going I am leaving. I will go and come. Leaving has come to me. We all, shall all, will all be left. Because I am here and where. And I will go or not or never. And I have seen what I will see. If I am where I will be. Because nothing comes between me."

Also auch hier: das Zusammenfallen von Vergangenheit und Zukunft in bloßer Präsenz, Trennungen und Ankünfte wild durcheinander, das Gleichzeitig-da-Sein hier und anderswo. Was hier verrückt erscheint, ist die Aufhebung der gewohnten Dimensionen von Zeit und Raum. So wie die Erinnerung des ersten Kapitels ins Präsens gehoben wird, scheinen manche Passagen, die eigentlich in der Gegenwart spielen müssten, in der Zukunft zu spielen oder sich in ihr zu wiederholen: "Sobald sie ins Zimmer tritt, wird sie bereits dort gewesen sein". Der Aufhebung der Grenzen zwischen den Zeiten entspricht die Aufhebung der Schranken zwischen den Personen: Tuttle spricht mit Reys und Laurens Stimme, Lauren kann am Ende mit Tuttles Stimme sprechen. Dieses gemeinsame Moment von Aufhebung und Verschiebung ist durch den Tod ausgelöst, der die Grenzen von Laurens bisherigem Ich zeitweise auslöscht. Im Text selber fällt der Ausdruck von der "Ichverschiebung", was man auch einen Sturz ins Bodenlose nennen könnte, der zur Folge hat, dass wieder beim ganz einfachen Benennen der Dinge angefangen werden muss. "Er sagte: ,Das Wort für Mondschein ist Mondschein'."

Die Körperkunst, die Lauren entwickelt, besteht aus sparsamen Szenen, die in karger, an Peter Brooks konzentrierte Ästhetik erinnernder Unmittelbarkeit den Beobachter an die Grenzen seiner Toleranz treiben: Eine alte Japanerin, die stilisierte Gesten nach Art des Nô-Theaters macht, eine Geschäftsdame, die ein Taxi anzuhalten versucht, ein alter Mann, der verzweifelt versucht, sich mitzuteilen. Diese fast schmerzhafte Verdichtung spiegelt ihrerseits das Reduzierte von Laurens Situation sowie der Handlung insgesamt. Die Entschiedenheit, mit der Lauren ihrem Körper diesen Ausdruck abverlangt - sie schneidet ihre Haare ab, beseitigt mit Pflastern Pusteln und Fitzelchen von Haut usw. - entspricht ihrem Versuch, mit einfachen Mitteln radikal auszudrücken, was sich nur unvollkommen in Sprache fassen lässt: wer und was wir sind.

Company (Gesellschaft)

Wo bleibt da, könnte man sich fragen, die Gesellschaft, von der DeLillo, dieser eminent politische Autor von Büchern über den Mord an Kennedy, von Romanen wie "Mao II", doch seit Jahrzehnten handelt? Sie ist mittelbar präsent, im Hintergrund, spricht über ihre Medien ständig mit hinein. Blickt man genauer hin, sieht man schnell, dass sämtliche Medien vertreten sind in diesem kleinen Prosastück. Zeitungen und Radio habe ich schon erwähnt, der Rekorder spielt als Medium der Vergegenwärtigung eine Rolle. Rey drehte Filme, Lauren macht Theater, wenn auch mit sparsamsten Mitteln. Telefonate stellen eine Verbindung zur Außenwelt her. Im Internet benutzt Lauren das Fernsehen in seiner vielleicht enwickeltsten Form: als Webcam, die eine nächtliche Straßenszene irgendwo in Finnland zeigt und in Realzeit überträgt: ab und zu fährt ein Auto vorbei, sonst passiert nichts. Werbung spielt ins Buch hinein: Rey will Ajax mitbringen und erwähnt "cigarette brands, Players and Gitanes, I'd walk a mile for a Camel". Lauren zeigt Tuttle Bücher mit Fotos, über die sie mit ihm redet. Von Tuttle heißt es, er hätte einen "cartoon head and body". So wie er ja insgesamt ein Medium ist für Lauren bei ihrem Versuch, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen.

Sozialität kann, als Abstrakt-Allgemeines, nur in dieser indirekten Weise mitwirken, tut dies aber um so deutlicher. Wo sie in Form konkreter Mitmenschen sichtbar wird, erscheinen diese eher in negativem Licht, verstärken Laurens Isolation noch: eine Freundin, die ihr mit unerwünschten Ratschlägen den Aufenthalt im Landhaus auszureden versucht; eine frühere Gattin Reys, die Lauren mit brutalen Schilderungen von Reys Selbstmord konfrontiert, der in ihrer Wohnung geschehen war ("du hast ihn ja gar nicht gekannt"); ein Anwalt, der sie vorsorglich darauf hinweist, dass sie Reys Schulden zu übernehmen habe - was bei ihr fast Heiterkeit erregt angesichts ihrer Situation -; der Besitzer des Landhauses, der auftaucht, um einen Schrank aus dem Haus holen zu lassen und kaum ein Wort über die veränderte Situation verliert. Alles Beispiele missglückter oder doch eingeschränkter Kommunikation, könnte man sagen, und das mit grausamer Genauigkeit protokollierte (in Wahrheit natürlich: konstruierte!) Gespräch in der Eröffnungsszene erhält eine fast makabre Färbung dadurch, dass es das letzte Laurens mit ihrem Mann war.

Mal vu mal dit (Schlecht gesehen schlecht gesagt)

Laurens Wiederaneignung der Sprache geschieht, neben der Auseinandersetzung mit Mr. Tuttle und ihrem Körper, in ständigen Beobachtungen der Landschaft und des Wetters, vor allem aber der Vögel, die ein Futterhaus vor dem Fenster des Landhauses haben. Diese Beschreibungen ziehen sich leitmotivisch durch das ganze Stück: "Auf dem Futtertrichter saßen fünf Vögel, und alle schauten reglos nach außen, weg vom Futter. Sie beobachtete sie. Sie schauten oder lauschten nicht so sehr, eher fühlten sie etwas, erspürten es aufmerksam./ Alles falsche Wörter, dachte sie." Der Versuch ihrer Beschreibung bleibt seltsam tastend, bleibt in der Schwebe.

Die Unangemessenheit der Sprache lässt sich dabei nicht trennen von einem Spezifikum der Sprache DeLillos, einfache Bilder gelegentlich mit etwas zu viel Tiefsinn aufzuladen. In der letzten Passage, in der Vögel auf Felsklippen am Meer vorkommen, heißt es: "weil die stehenden Möven, etwas dämlich auf ihren Stelzenbeinen, all die im Fels gebundene Zeit zum Fliegen bringen, sobald sie sich schräg in die Lüfte erheben, sie der Geologie, der Wissenschaft und dem Geist entreißen". In DeLillos Prosa war es immer schon eine Gefahr, im Versuch, die Dinge zum Flirren zu bringen, von der genauen Beschreibung abzugleiten in reflexive Erwägungen, die von der Beobachtung nicht immer gedeckt sind und die auch nicht dadurch legitimiert werden können, dass man diese Passagen für Rollenprosa ausgibt. So heißt es beispielsweise in einer Passage, in der die Zerstreutheit Laurens beschrieben wird, dass sie sich Sachen einschärfen muss, um nicht zu vergessen, was eingekauft werden soll: "denn es fällt dir immer ein, sobald du an Ort und Stelle bist." Was schon genügen würde, um diesen Prozess zu beschreiben, wird unnötigerweise ausgedehnt durch den folgenden Satz "Irgendwie wird die Sache mitgeteilt". Manche Metaphern wirken überladen, so wenn Lauren das Telefon abhebt, aber wartet, bis sich der Anrufende meldet: sie "zog eine kleine, grausame Befriedigung aus dem Innehalten der verblüfften Moleküle." Auch scheinen mir die Reflexionen über die Aufhebung der Zeit gelegentlich zu überpointiert. DeLillos Anstrengung, in seiner Prosa permanent Darstellung und Reflexion ineinander übergehen zu lassen, die Sprache an ihre Grenzen zu treiben, wandelt auf schmalem Grad.

Stirrings Still

Doch gibt es beispielsweise ein Bewegungsbild, wie eine Büroklammer vom Tisch auf den Boden fällt, die über eine ganze Seite füllt und die genauso wunderbar schwerelos und doch ganz konkret ist wie diese Klammer selbst. Immer wieder gelingt es DeLillo, die Würde und Wahrheit der schlichten Dinge aufscheinen zu lassen, wenn auch der Versuch, dies sprachlich zu fassen, immer vom Scheitern bedroht ist. Das geht über die Gefahr, schiefe Metaphern zu benutzen, weit hinaus, es hat mit der Unangemessenheit aller Sprache zu tun, ihrem Kreisen um die Dinge, die sie nie ganz zu fassen bekommt. Schon in den früheren Werken DeLillos konnte man merken, wie der Autor sich bemüht, im Hin und Her zwischen exakter Abbildung und evokativen fast träumerischen Passagen den Imaginationsraum des Lesers zu erweitern, ihm Stoff zu liefern. Die Schwächen und Stärken dieser Prosa kommen in diesem neuesten, sehr intensiven, streckenweise fast meditativen Stück deutlich zum Vorschein.

Am Ende aber, als Lauren nach der Performance wieder in ihrem Landhaus ist, wird diese Prosa so dicht und konzis, dass auch die gelegentliche Kritik bestimmter Formulierungen oder Teilsätze ihre Berechtigung verliert und deutlich wird: Gerade im Tastenden, im unaufhörlichen Versuch der Selbst- und Außenvergewisserung spiegelt sich adäquat die Anstrengung Laurens, eine Art des Weiterlebens zu finden. Das Vage, fast Spekulative der Prosa, das Luftige der Phrasen entspricht ihrem Bemühen um ihr Selbst, um eine Annäherung an die Antwort auf die Frage, die von ihrer Freundin so gestellt worden ist: "wer (sind) wir, wenn wir gerade nicht inszenieren, wer wir sind". Während sie noch den Körper ihres Mannes im gemeinsamen Schlafzimmer zu spüren glaubt, wird ihr die Antwort klar: "Geh das Risiko ein. Glaub, was du siehst und hörst. Es ist der Puls jeder heimlichen Andeutung, die du je an den Rändern deines Lebens verspürt hast." Sprachlich lässt sich dieser Prozess, sofern er überhaupt nicht nur in Ausnahmesituationen, in Epiphanien zustandekommt, eben kaum präziser fassen.

Das Bemühen, die Dinge genauestens zu erfassen, und die tastende Anstrengung, seiner selbst gewahr zu werden, schießen zusammen in dem Versuch, sich der Berührung durch die Dinge zu öffnen, der Selbsteinsperrung zu entkommen. Am Ende reißt Lauren das Fenster auf: "Sie wusste nicht, warum sie das tat. Dann wusste sie es. Sie wollte den Biss des Meeres auf ihrem Gesicht spüren, den Fluss der Zeit in ihrem Körper, um zu erfahren, wer sie war."

imagination morte imaginez (ausgeträumt träumen)

Damit endet das Buch. In "Mao II" hatte der Schriftsteller Bill noch sinniert: "Beckett ist der letzte Schriftsteller , der unsere Art zu denken und zu sehen dargestellt hat." Mit dieser Studie über den Schock der Todeserfahrung hat sich DeLillo ganz nah an die Radikalität der Beckettschen Monologe herangeschrieben. Diese Prosa strebt auf einen, wie es in "Körperzeit" heißt, "imaginären Punkt" zu: "einen Nicht-Ort, wo sich die Sprache mit unserer Wahrnehmung von Zeit und Raum überschneidet." Dieser imaginäre Punkt, an dem die Sprache DeLillos ihre Wirkung entfaltet, ließe sich auch beschreiben als Kreuzpunkt von Innen- und Außenwelt im Medium der Sprache - auch wenn für dieses Mal von der Außenwelt kaum die Rede ist. Aber Innen- und Außenwelt können ohnehin nicht unabhängig voneinander gedacht werden, noch in ihrer Isolierung verweisen sie aufeinander. Nach der Unter- jetzt also die Innenwelt. Welche Aspekte des gesellschaftlichen Ganzen wird DeLillo, mit beiden Beinen fest auf dem Boden, als nächstes erträumen?

Titelbild

Don DeLillo: The Body Artist.
Simon & Schuster Inc., New York 2001.
192 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 0743212215

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