Das Diagramm von Hoffnung und Angst

Ilya Kabakovs Aufzeichnungen über den künstlerischen Untergrund Moskaus

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ilya Kabakov ist dem westlichen Publikum vor allem durch seine vielfach ausgestellten, "narrativen" Totalinstallationen bekannt. Er gilt als einer der renommiertesten Künstler des Moskauer konzeptualistischen Kreises. Seine Aufzeichnungen über das inoffizielle Leben der 60er und 70er Jahre in Moskau, den Beginn der poststalinistischen Ära, berichten vom Anfang seines eigenen Schaffens. Sie beinhalten sowohl Biographisches als auch die künstlerische Reflexion, kulturphilosophische Überlegungen wie Portraits nahestehender Künstler und Freunde aus dieser Zeit. Doch stelle dieses Buch kein einheitliches Ganzes dar, wie man es bei einer Art Epochendarstellung zu erwarten hätte, schränkt Kabakov in der Vorbemerkung ein, denn ausschließlich die beiden ersten fragmentarischen Kapitel über die zwei besprochenen Jahrzehnte wurden handschriftlich verfasst, der "Leidenschaftliche Monolog: Die Verteidigung des Personalismus in der Kunst der 60er Jahre" wurde auf Tonband aufgezeichnet und übertragen. Dadurch ergeben sich viele Wiederholungen, bereits bekannte Gedanken tauchen auf, werden variiert wiedergegeben, ein Urteil über einen Kollegen fällt zu hart aus, usw. Kabakov wollte jedoch den Prozess der Entstehung in diesem Monolog bewahrt wissen, weshalb die Direktheit der mündlichen Apologie nur von einigen Kommentaren am Kapitelende relativiert wird. Im Anhang des Bandes finden sich schließlich neben dem Nachwort von Boris Groys einige kunsttheoretische Überlegungen der langjährigen Weggefährten Erik Bulatov und Oleg Wassiljew, aber auch ein kurzer Text von Kabakov selbst und ein Verzeichnis seiner "Alben", die als zentraler Werkkomplex dieser Erinnerungen von besonderer Bedeutung sind.

Kabakov, 1933 in Dnjepropetrovsk geboren, hatte bereits während des Zweiten Weltkrieges die nach Samarkand in Usbekistan ausgelagerte Leningrader Akademie der Bildenden Künste besucht, bevor er nach dem Krieg nach Moskau zog. Dort studierte er als Kommilitone von Erik Bulatov Grafik am Surikov-Institut. Hier setzten seine Ausführungen mit einem ersten Konflikt ein. Es gelte nicht, die Arbeit zu reflektieren, die er "für sie" anfertigte, d. h. für die Lehrkräfte der Hochschule, um sie zufrieden zu stellen und nicht der Hochschule verwiesen zu werden, sondern an den Teil der Arbeit will er sich erinnern, den er als eigenständig, als "für mich selbst", bezeichnen kann. Im Folgenden zeichnet Kabakov also seinen persönlichen Werdegang nach, wobei er versucht, die entscheidenden Einflüsse und Irrtümer, die wichtigen Vorbilder und Freunde, eine private wie öffentliche Atmosphäre zu benennen und gleichzeitig die verschiedenen Strömungen zu schematisieren. Er schildert die Herstellung des ersten, misslungenen "Meisterwerks" oder der ersten Naturstudien auf der Datscha Bulatovs und das Verhältnis zum Vorbild Robert Rafailowitsch Falk, mit dem er nach dem Studienabschluss Bekanntschaft machte, und den er mit den Freunden Bulatov, Wassiljew und Meschaninow regelmäßig in seinem Dachatelier besuchte. Mit Falk verbindet sich sogleich eine peinliche Anekdote um ein zurückgegebenes Bild, ein Geschenk, das Kabakov nach Falks Tod in einem depressiven Zustand und mangels einer größeren Wohnung dessen Frau zurückgeben ließ. Darin wird bereits deutlich, in welch armseligen Verhältnissen Kabakovs Kunst zu entstehen hatte. Den Lebensunterhalt verdiente er sich als Kinderbuchillustrator, er reichte gerade aus, eine verschimmelte Kellerwohnung zu mieten und Leinwand und Farben zu bezahlen. Darüber hinaus sieht Kabakov den Künstler seiner Zeit in einem fragwürdigen Dilemma. Darf der unabhängige Künstler von seiner Kunst leben, d. h. seine Bilder verkaufen, etwa schon während des Schaffens auf die Gunst des Publikums hoffen - nicht zu vergessen, dass ihm, wenn sich die Gelegenheit einer Ausstellung eröffnen sollte, die Bilder fehlen -, oder ist er nur für sich Künstler, der seine Bilder und Skulpturen vorerst nur den Eingeweihten präsentiert, auf einer der seltenen Ausstellungen inoffizieller Kunst? Dies ist nur ein Bestandteil der Frage, die sich durch das gesamte Buch zieht:

"Wie, auf welche Weise, läßt sich diese ganze Atmosphäre der Verzweiflung, der Sehnsucht, der Ausweglosigkeit und des Schreckens wiedergeben, die das sogenannte inoffizielle 'künstlerische' Leben dieser Zeit durch und durch prägte, also die gesamten 60er Jahre bis zum Anfang, der Mitte und dem Ende der 70er?"

Die allgegenwärtige Angst vor den Sowjetbehörden, die Ateliers willkürlich räumen und schließen lassen konnten, beherrschte die Kunstszene Moskaus, und Kabakov selbst fühlte sich angesichts seiner Hoffnungslosigkeit nie als Teil einer revolutionären Bewegung. Dies war wohl auch der Grund, warum er nicht an der aufsehenerregenden, provokanten 'Bulldozer'-Ausstellung teilnahm, die er im Nachhinein als Wendepunkt in einem Diagramm von Hoffnung und Angst ansieht. Die Aktion Oskar Rabins 1974, in dem Jahr, in dem die Angst am größten schien, das inoffizielle Kunstleben könnte von heute auf morgen 'plattgemacht' werden, ließ die Angst danach abnehmen: die inoffizielle Kunst würde bleiben, wie sie ist, sie würde aber auch nichts verändern können. Die von Kabakov konstatierte Hoffnungslosigkeit blieb somit dieselbe.

Nach diesem Versuch, die "Neosphäre" Moskaus zu beschreiben, widmet sich Kabakov der Theoretisierung der künstlerischen Strömungen. Er stellt dar, inwiefern sie von diesem gesellschaftlichen Klima beeinflusst waren. So vermeint er eine gewisse Metaphysik auszumachen, die sich im Weiß der Leinwand ausdrückt - dies liest sich übrigens wie ein weiterführender Kommentar zu seiner Ausstellungsinstallation "Ilya Kabakov präsentiert Charles Rosenthal (1898-1933)", in der der fiktive Rosenthal sein Problem mit dem "Licht von außen und Licht von innen" reflektiert -, oder er fasst die Entstehung und Idee der Soz-Art zusammen, indem er die entscheidenden Protagonisten, etwa Witali Komar und Alexander Melamid, portraitiert. Was die Konzentration auf sein eigenes Werk betrifft, so ist sicherlich seine Synopsis der "Alben", die er als Genre charakterisiert, aufschlussreich. Die Alben, zwischen 1970-78 entstanden, werden in ihrer Konstruktion analysiert. Dabei wird ihre besondere Erzählweise referiert und schließlich die Motivation bloßgelegt: es gehe, abseits der formalen Neuerung, letztendlich um die "Klärung des verschlossenen Innenlebens, des ausschließlich nach innen gekehrten und orientierten Bewußtseins, das nur sich selbst im Blick hat und nur sich selbst beschreibt."

Kabakovs persönliche Abschweifungen gehen allerdings weit über diese eng definierten Kunstdiskurse hinaus. Dennoch hätte man sich gewünscht, dass die eine oder andere Passage in überarbeiteter Fassung dargeboten würde. Zu oft wiederholen sich ähnliche Gedankengänge, ist eine ästhetische Strategie bereits erklärt. Insgesamt scheinen die Erinnerungen hektisch zusammengerafft: alles, was es festzuhalten gilt, z. B. den Verbleib zahlreicher eigener Bilder (was den Leser in den meisten Fällen kaum interessieren wird, zumal das Kunstmuseum Bern einen Werkkatalog bearbeitet), wird nebenbei erwähnt. Trotzdem, es finden sich zu viele geistreiche und innovative Überlegungen zur Moskauer Kunst in diesem Band, die nicht nur auf Kabakovs Œuvre Rückschlüsse zulassen, als dass diese Publikation gering beachtet werden sollte. Allein die ausführliche und prägnante Theoretisierung der 60er-Jahre-Kunst in dem Bild einer Müllhalde der kulturellen Bruchstücke wäre lesenswert, wenn sich nicht sowieso der Eindruck durchsetzen würde, man folge dem Rückblick auf die Entstehung eines der wirkungsmächtigsten Werke der ehemals 'sowjetischen' Kunst, ein Werk, das seinen Höhepunkt im wahnwitzigen Konzept eines Museums der Sowjetunion findet.

Titelbild

Ilya Kabakov: Die 60er und 70er Jahre. Aufzeichnungen über das inoffizielle Leben in Moskau.
Übersetzt aus dem Russischen von Wolfgang Weitlaner und Mitarbeit von Christine Gölz.
Passagen Verlag, Wien 2001.
350 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3851653947

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