Unbekannte Welt

Ron Winklers verpasste Annäherung an Durs Grünbeins lyrisches Werk

Von Alexa HennemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexa Hennemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wissenschaftlich ist das Werk Durs Grünbeins (geboren 1962) bisher kaum erforscht. Eher zaghaft werden erste Versuche unternommen, die Poetik des Dichters zu ergründen. Seine Lyrik, oftmals inspiriert von klassischen Formen, schlägt eine gänzlich neue Tonart an. Fünf Gedichtbände hat Durs Grünbein bisher publiziert, daneben erschien eine Essaysammlung.

Ron Winkler hat sich in seinem Buch "Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn. Annäherungen an das lyrische Werk Durs Grünbeins" die - besonders angesichts dieser Forschungslage schwierige - Aufgabe gestellt, "ein Gesamtbild der Lyrik" Grünbeins darzustellen. Als Grundlage dafür sollen ihm die "Stimmen der Kritik" dienen: das Feuilleton. Jedem Gedichtband widmet der Autor ein Kapitel und führt dort die entsprechenden Stimmen zusammen.

Dieses Konzept stellt sich als äußerst problematisch heraus. Viele Zitate von Rezensenten werden von Winkler nur unkommentiert referiert, jedoch nicht kritisch beleuchtet. Natürlich sind, wie der Verfasser in seiner Einleitung bemerkt, einzelne Beobachtungen der Rezensenten sehr präzise, andererseits sind viele Bemerkungen der Kritik vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt her gar nicht relevant. Zudem versäumt es Winkler weitgehend, eine eigene Position zu beziehen.

In der Einleitung heißt es, Grünbein orientiere sich in seinen poetischen Techniken vor allem an Dante, Baudelaire und Pound. Die Gründe seien einerseits "präzise Beobachtung" und andererseits "das Kumulative der weit ausgreifenden Dichtung in den Poundschen 'Cantos' oder Dantes 'Divina Commedia'". Die Einordnung eines ganzen Werks in eine literarische Tradition sollte ausführlicher begründet sein. Und so wechseln erklärungsbedürftige Behauptungen ("Die graue Zone ist die 'schwarze Milch der Frühe'") mit einigen nachvollziehbaren Interpretationsansätzen, die sich zwischen "urbanen Raumerkundungen" und dem Territorium "Gehirn" bewegen. An manchen Stellen kritisiert Ron Winkler den Autor Durs Grünbein, statt sein Werk zu analysieren: "Die Allegorie wird von Grünbein bis aufs Äußerste bemüht und ist besonders dort metaphorisch übertrieben, wo er die Idee in weitläufige Appositionen übersetzt." Die Sprache Winklers führt mitunter eher zur Verdunklung als zur Erhellung der Grünbein'schen Poetik, zitiert sei beispielhaft der folgende Satz: "Grünbein montiert Bilder kaskadisch zu einem Unwirklichkeitsstrom. Die Welt wird mittels manierierendem Thesaurus rückübersetzt in die zutiefst nackten Bruchstücke, als die sie das Innere empfindet."

Der Autor schließt sein letztes Kapitel mit dem Satz: "Viele Gedichte scheinen wie immer weitere Karten zu einem schon bekannten Atlas." Ein Schlusswort, in dem Ergebnisse zusammengefasst würden, fehlt diesem Buch. Winklers Ansinnen, die Rezeption Grünbeins für "Interessenten und Wissenschaft greifbar zu machen" - so heißt es im Werbetext des Verlags - kann nicht Haupterkenntnisziel einer wissenschaftlichen Arbeit sein. Insgesamt bleibt die Vorgehensweise des Verfassers in weiten Teilen zu deskriptiv und oberflächlich, ohne roten Faden.

Eine umfassende literaturwissenschaftliche Studie, die den Mut hat, weithin unerforschtes Gebiet zu betreten, eine Untersuchung, die systematisch Entwicklungslinien in der Lyrik Grünbeins erforscht, Motive aufzeigt, formale Kriterien entschlüsselt oder beispielsweise die Rolle der Naturwissenschaft sorgfältig analysiert und das Werk Grünbeins so in einen großen Zusammenhang stellt, fehlt der Literaturwissenschaft weiterhin. Noch ist der Atlas, der die Wege zum poetologischen Selbstverständnis Durs Grünbeins aufzeigen würde, weitgehend unbekannt.

Titelbild

Ron Winkler: Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn. Annäherungen an das lyrische Werk Durs Grünbeins.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2000.
118 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3830002114

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