"Stolpert auch Jeder über Leichen"

Matthias Wegner träumt den Lebenstraum der Ida Dehmel

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man weibliche Fans, die mit ihrem Idol sexuelle Kontakte suchen bzw. haben, als Groupies bezeichnet, dann gehörte Ida Coblenz zu diesem Kreis, hundert Jahre bevor der Begriff in Mode kam. 1892 äußerte sie über den Dichter Richard Dehmel: Er "ist einer von den ganz Großen. Ich wollte, ich wäre das Weib, das er liebt." Das hatte sie so ähnlich auch Stefan George angetragen, der wie sie aus Bingen stammte. Der hatte es aber dann aus naheliegenden Gründen bei einem Seelenbund belassen, weshalb die 25-Jährige 1895 den Kaufmann und Konsul Auerbach aus Berlin heiratete, wo sie einen literarischen Salon einrichtete, in den sie u. a. Fontane einlud. Obwohl sie alsbald Mutter wurde, geriet ihr die Ehe mit dem biederen und wenig erfolgreichen Geschäftsmann zum Martyrium. Denn sie fühlte sich zu Höherem berufen.

Weil sie sich in kluger Selbsteinschätzung eigene künstlerische Produktion versagte, wollte sie "Maklerin zur Kunst" sein. Indem sie diesen Lebenstraum gegen große Widerstände durchsetzte, wurde das Mädchen aus der Provinz, wie der Dichter Alfred Mombert schrieb, "die besungenste Frau der neueren Zeit". Ihr Biograph sieht sie gar als Modellfall für die Gegenwart und gestaltet ihre Lebensgeschichte zum Kulturpanorama. Im Kaiserreich hatten Positivismus und Industrialisierung die metaphysischen Bindungen erkalten lassen. An die Stelle traditioneller Werte trat die grenzenlose Autonomie der Kunst. Ein Künstler, der der Untergangsstimmung des "Fin de siècle" seinen sanguinischen Vitalismus entgegenstellte, war Richard Dehmel, Mitbegründer der Zeitschrift "Pan". An diesen wandte sich nun die Frau Konsulin mit schwärmerischen Worten, zunächst brieflich, dann ganz persönlich. "Da fiel der Blitz in Dehmels Seele", glaubt dessen Biograph Julius Bab. Dehmel bekämpfte die Enge der wilhelminischen Gesellschaft mit schwülstigen Versen. "Aber die Liebe" heißt sein zweiter Gedichtsband, in dem er Sinnlichkeit mystisch übersteilt, ein Unterfangen, das wenig später Thomas Mann in seiner Tristan-Erzählung bespöttelt.

Was sich auf dem Papier als höchstes Wagnis feiern lässt, führt im Leben zu mancherlei Konfusion. Erst nach einigem Zögern war der Dichter bereit, für seine Geliebte die Gattin, drei Kinder und einige andere Frauen aufzugeben. Sich und Ida macht er in gesteigerter Produktion Mut: "Stolpert auch Jeder über Leichen, / schaudre nicht davor zurück! / Denn es gilt, o Mensch, ein Glück / ohne gleichen zu erreichen." Weil sie einen "individuellen Lebensentwurf" wagten, wurden die beiden für kurze Zeit "das Traumpaar" einer Epoche, die ihre bösen Ahnungen in einem Rausch der Sinne und der Schönheit zu ertränken suchte. Im Ersten Weltkrieg verlor Ida ihren einzigen Sohn. Dehmel, den sie geheiratet hatte, weil die Tabubrecherin letztlich doch "keine zigeunerhaften Zustände" ertragen konnte, meldete sich über 50-jährig freiwillig zum Krieg und wurde ein germanisch-patriotischer Reimeschmied. Die Demokratie sah in dem Verfechter der Dolchstoßlegende nur mehr den Störenfried. Nach Dehmels Tod (1920) widmete sich Ida dem Nachlass und gründete eine der zahlreichen Künstlerinnen-Vereinigungen der Weimarer Republik. Weil sie das Erbe eines deutschnationalen Dichters verkörperte, entging die Jüdin in der Nazizeit zunächst der Verfolgung. Als sich gleichwohl die Schlinge um sie immer enger zog und überdies die Auswirkungen einer Krankheit unerträglich wurden, schied sie 1942 freiwillig aus dem Leben.

Wegner hat das Leben dieser großen Liebenden, das selbst "einem Roman gleicht", vornehmlich aus den Quellen des Hamburger Dehmel-Archivs recherchiert. Er hat ihr einen Platz eingeräumt unter jenen Frauen, welche, wie Lou Andreas-Salomé oder Frieda von Richthofen, durch das Exzeptionelle ihrer Existenz die Künstler inspirierten. Sein Portrait besticht durch kritische Distanz, wenn er resümiert, dass "die träumerische Weltflucht" und der "grenzenlose Subjektivismus" einer ganzen Generation von Künstlern, die in Ida ihre Muse sahen, den Boden bereiteten für eine Verblendung, die das Unheil nicht erkennen konnte.

Titelbild

Matthias Wegner: Aber die Liebe. Der Lebenstraum der Ida Dehmel.
Claassen Verlag, München 2000.
415 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3546002024

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