Auf Salingers Spuren

Günter Ohnemus über Adoleszens in den 90ern

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls heulte ich. Wahrscheinlich, weil ich so verdammt deprimiert und allein war." Erinnern Sie sich? So litt Holden Caulfield, junger Held in Salingers "Der Fänger im Roggen", an der Welt. Wegen Arbeitsverweigerung aus der Schule geworfen, irrte er drei Tage und Nächte durch das winterliche New York, auf der Suche nach Orientierung. Was ihn deprimierte, war die Kälte hinter der Fassade, waren die Heuchler überall. Die Spielregeln, die er als Heranwachsender lernen sollte, erfuhr er als Anpassung an eine in ihrer Unechtheit enttäuschenden und abstoßenden Gesellschaft.

Salingers Kultbuch (1951 erschienen, in Heinrich Bölls Übersetzung 1966 bei uns angekommen) ist ganz offenkundig Vorlage für "Der Tiger auf deiner Schulter". Günter Ohnemus, Alfred-Kerr-Preisträger 1998 und bisher mit Erzählungen hervorgetreten, übernimmt in seinem ersten Roman Salingers jugendlichen Ton von damals, eine Mixtur aus Understatement und Übertreibung, wo "dieser verdammte Film" "aus irgendeinem blöden Grund" "einfach wahnsinnig" ist. Kleine Beobachtungen werden zu symbolhaltigen Bildern ausgebaut. "Der Tiger auf deiner Schulter" ist ähnlich wie "der Fänger im Roggen" ein Bild für die schutzbedürftige Wahrhaftigkeit von Kindern. Es gibt sogar einen Mr. Caulfield in Ohnemus´ Buch; vielleicht ist das ja der alte Holden, mittlerweile sechzig geworden, "ein ziemlich schräger Typ, ziemlich groß und ziemlich dünn", der jetzt seinen Beschützer-instinkt auslebt, indem er einen Schulbus voller Kinder mit besonderer Sorgfalt durch Amerika steuert. Wie Holden hat Ohnemus´ Held Vincent, genannt Gogo, keinen besonders guten Ruf an der Schule. Auch er haßt unechtes Getue. Er diskutiert über Literatur und philosophiert über Gott und die Welt. Er liebt und respektiert Karen, weil sie sagt, was sie denkt.

Gogo ist aber erkennbar in den neunziger Jahren angesiedelt. Er tippt seine Geschichte in einen Computer und findet Karen attraktiver als Cindy Crawford oder Claudia Schiffer. Sein Bruder Benjy ist schwul und hat Aids. In den neunziger Jahren leidet man nicht mehr an der Gesellschaft. Gogo bewundert seine Eltern, vor allem die Mutter. Sie ist so attraktiv, daß alle Bauarbeiter hinter ihr herpfeifen, dazu belesen und als Physikerin viel auf Kongressen unterwegs. Sie spielt Bach wahrer als Glenn Gould und weiß immer, was man braucht. An der Welt, wie sie eingerichtet ist, hat Gogo nichts Wesentliches auszusetzen. Er hat sein High-School-Jahr in Amerika genossen, lebt aber auch gern in München, im geräumigen Haus der Eltern. Er spielt Tennis und reitet mit Karen durch niederbayerische Wälder. Was ihm an Karen besonders gefällt, ist die Ähnlichkeit zu seiner Mutter. Die religiösen Gespräche kreisen um Karma und Zen-Buddhismus. Wovon Gogo sich abhebt, sind allenfalls Vorlieben der Altersgenossen, die ohrenbetäubende Musik, die dumpfe Gewalttätigkeit der Rocker, der oberflächliche Glanz eines Films wie "Rossini", die blöde dreckige Verlogenheit eines Buches wie "Trainspotting". Er rührt seine Karen so gut wie nicht an, Blicke und das Gefühl der Gemeinsamkeit genügen. Die Beziehung der beiden, mit großer Behutsamkeit als zentrales Thema des Romans entfaltet, ist so sauber und positiv wie das ganze Buch.

Es gibt auch einen Konflikt im Roman, gedoppelt sogar und auf diese Weise zu schicksalhafter Bedeutung erhoben. So wie dem Erzähler Gogo schon in Amerika die Freundin Tiffany durch deren Eltern entfremdet wurde, so ist plötzlich auch die Liebe zu Karen bedroht. Wie sich herausstellt, hatten Karens Mutter und Gogos Vater ganz früher einmal eine Beziehung, die mit einer Abtreibung endete - Grund genug, die Jungen auseinanderzubringen. Diesmal aber gibt Gogo nicht auf und zieht los, um Karen zu suchen, denn ihre Liebe, sagt seine Mutter, ist ein Wunder.

Salingers Adoleszentenstory ohne die gesellschaftskritische Brechung - das ergibt ein bißchen zu wenig Tiefgang und ein bißchen zuviel Gefühl, dazu einen Helden, der wie ein wiedergeborener Achtundsechziger weder damals noch heute richtig zu Hause ist. Als Gogos Mutter für den in London lebenden Benjy ein schönes deutsches Buch kaufen will, verläßt sie den Buchladen nicht mit einem zeitgenössischen "windigen Machwerk", sondern mit "Katz und Maus" von Günter Grass.

Titelbild

Günter Ohnemus: Der Tiger auf deiner Schulter. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
203 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3895612901

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