Die melancholische russische Seele

Andrej Makines Roman "Russisches Requiem"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eines Tages muß es möglich sein, die Wahrheit zu erzählen, die Wahrheit über sein Leben, seine wirkliche Identität und seinen vergeblichen Kampf", lässt Andrej Makine seinen Protagonisten geradezu flehend nach einer langen politischen und geografischen Odyssee resümieren. Der neue Roman "Russisches Requiem" knüpft nahtlos an Makines 1997 in deutscher Übersetzung erschienenen und über eine Million Mal verkauften Erfolgsroman "Das französische Testament" an.

Der kleine Junge, der im neuen Roman in den Wirren des Stalinismus von einer alten Französin gerettet wird, könnte ein Bruder des Protagonisten Aljoscha aus dem "französischen Testament" sein. Beide lernen Französisch, beide fühlen sich in ihrer Heimat fremd, beide kehren Russland desillusioniert den Rücken - gehen also den gleichen Weg wie ihr "geistiger Vater" Andrej Makine.

Der 1957 in Sibirien geborene Autor lebt seit knapp 15 Jahren in Paris, und doch kreisen seine Gedanken stets um seine biografischen Wurzeln, um die eigene und die russische Geschichte - immer auf der Suche nach der eigenen Identität. Aus dem kleinen Jungen, der in einem Kinderheim aufwächst und als einzige wirkliche Bezugsperson seine französische Lebensretterin hat, wird ein Militärarzt, dessen Aufgabe es ist, seine zerfetzten Landsleute medizinisch notdürftig zu versorgen, damit sie an den spätimperialen Kriegsschauplätzen in Äthiopien, Afghanistan und Angola wieder fürs Vaterland kämpfen können.

Der Tod ist allgegenwärtig, denn nach und nach erfahren wir auch vom grausamen Ende seiner Eltern, die drei Monate nach Stalins Tod im Kaukasus ermordet wurden. Gezeichnet vom alltäglichen Grauen vollzieht der junge Militärarzt eine Zäsur in seinem Leben und lässt sich vor dem Fall des "Eisernen Vorhangs" vom russischen Geheimdienst anwerben, um die westlichen "Kriegstreiber" auszuspionieren: "Unser Zeitalter ist weiter nichts als diese ungeheuerliche Physiologie, bei der Gold, Öl, Politik, Kriege verdaut werden, um für die einen das Vergnügen und für die anderen den Tod bereitzuhalten."

Mit dem großen idealistischen Vorsatz, diesen wahnwitzigen Kreislauf stoppen zu wollen, lässt Makine seine Hauptfigur die Flucht in die Halbwelt der Spionage antreten. Hals über Kopf verliebt er sich auch noch in eine spionierende Genossin, die allerdings nach einer kurzen und leidenschaftlichen Romanze nicht wieder auftaucht. Gorbatschows Perestrojka lässt die klaren Feindbilder verschwimmen, und der vom Militärarzt zum Spion konvertierte Protagonist fürchtet sich fortan sowohl vor seinen Landsleuten, die schnell die kapitalistischen Mechanismen verinnerlicht haben, als auch vor den westlichen Geheimdiensten.

Andrej Makine hat in diesem Roman mittels des exemplarischen Lebenswegs seiner Hauptfigur und deren Vorfahren fast ein ganzes Jahrhundert russischer Geschichte erzählt. Es ist tatsächlich ein Requiem herausgesprungen, ein Buch der Enttäuschungen und Verluste, des Schmerzes und unerfüllter Sehnsüchte, ein Trauergesang auf eine untergegangene Kultur und eine an der Politik gescheiterte Liebe. Die Neigung zum sentimentalen Pathos ist ein genuines Phänomen großer russischer Literatur. Obwohl Makine seit geraumer Zeit in Paris lebt und Französisch schreibt, sind diese künstlerischen Wurzeln bei ihm unübersehbar. Hier spricht so etwas wie die melancholische "russische Seele", gebrandmarkt durch die Geschichte und gekränkt von unerwiderter Vaterlandsliebe.

Titelbild

Andrei Makine: Russisches Requiem. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Müller und Holger Fock.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2001.
286 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3455051456

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