Unter gleichgültigem Himmel

Aleksandar Tišma erzählt vom Krieg im Frieden

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder von uns kennt diese besonderen Geschichten: Verdichtet auf einige Seiten, berichten sie in einer solchen Intensität vom Schicksal eines Menschen, dass wir vor einer zweiten Lektüre fast ängstlich zurückschrecken. Irgendetwas Außergewöhnliches steckt in diesen Texten, die man umso mehr liebt und sein Leben lang nicht mehr vergisst. Es sind geglückte Geschichten über das Unglück. Der 1993 in Deutschland veröffentlichte erste Erzählungsband "Die Schule der Gottlosigkeit" von Aleksandar Tišma enthielt mindestens eine dieser unvergesslichen Erzählungen. In der Titelgeschichte erscheinen Glück und Unglück Teil eines unauflöslichen Widerspruchs, beide kaum zu ertragen. Tišma kontrastiert die Grausamkeit eines Mannes, der einen jungen Oppositionellen zu Tode foltert, mit den angstvoll-fürsorglichen Gedanken eben jenes Mörders an sein im Sterben liegendes Kind. "Ich danke dir, Gott!", fällt Dulics auf die Knie, als er die nicht mehr erhoffte Rettung seines "Igelchens" vernimmt und die gerechte, erwartete Strafe des Herrn ausbleibt, "es gibt dich nicht Gott! Nein, es gibt dich wirklich nicht. Ich danke dir!"

Der Himmel ist in Tišmas Erzählungen und Romanen gleichgültig. Es gibt keine Gerechtigkeit, weder für die Guten noch für die Bösen. Doch wer ist überhaupt gut, wer ist schuldig in diesen Geschichten aus Novi Sad, dem serbischen Donaustädtchen unweit von Ungarn und Kroatien? "Ohne einen Schrei" heißt das neue Buch, das im Original bereits 1980 erschienen ist, wie seine Vorgänger ins Deutsche von Barbara Antkowiak übersetzt, die den pathosfreien Ton Tišmas genau trifft. Doch Tišma, 1924 als Sohn eines Serben und einer ungarisch-jüdischen Mutter in Jugoslawien geboren, ist kein unbeteiligter Chronist, der in dem nicht enden wollenden Leid der Serben, Kroaten und Ungarn, der Juden und auch der Deutschen in der Vojvodina sein literarisches Lebensthema gefunden hat. Große Literatur ist immer engagiert, gerade, indem sie den Leser von Slogans und Botschaften verschont. Aleksandar Tišma gehört ohne Zweifel zu den großen Erzählern des 20. Jahrhunderts.

Auch in "Ohne einen Schrei" ist es wieder die Titelgeschichte, bloß zwölf Seiten lang, die alleine den Kauf dieses Buches rechtfertigt: diese Erzählung muss man gelesen haben. Am Tage des Gedenkens an die Opfer der Nazi-Okkupation, es ist ein wunderschöner Sommersonnentag, fährt der Ich-Erzähler zum Baden an die Donau. Gewissensbisse mischen sich mit Erinnerungen und Ausreden, die "verlogene Betroffenheit", von oben verordnet, ist seine Sache nicht. Atemberaubend schöne Badeszenen zeichnet Tišma, er findet die Erhabenheit der Natur an einem ebenen Sandstrand, und "durch diesen harmonisch geformten Schoß, die Begegnung all dieser Grüße aus Weite und Farben, zog sich lautlos das blaue Band der Donau." An diesem traumhaften Strand jedoch, an genau der beschrieben Stelle, hatte sich zehn Jahre zuvor eines der schrecklichsten Massaker der deutschen Besatzungszeit ereignet. Über tausend Menschen waren damals hingerichtet und wie Abfall in die Donau geworfen worden, darunter Kind, Ehefrau und Mutter des Erzählers. Dieser selbst hatte sich retten können, wie, das wird verschwiegen.

Die Scham und die Schuldgefühle der Überlebenden gehören zu Tišmas zentralen Motiven. Seine großen Romane "Das Buch Blam" und "Kapo" erzählen von der Lebensuntauglichkeit, dem nicht gelingenden Vergessenwollen und Verdrängenmüssen der Lebenden. "Und jetzt saß ich an eben dieser Stelle und genoss die Sonne", beichtet der Mann, der mit ansehen musste, wie seinem Kind der Schädel zertrümmert wird, "den Sand, die Donau, meinen nackten, erfrischten Körper. War das möglich? Ja, es war möglich." Auf kaum mehr als zehn Seiten gelingt dem Serben hier eine ebenso kunstvolle wie philosophische Reflexion über das Erinnern und Aussprechen des Unsagbaren, ganz ohne die nationalistische Verbrämung Walsers und das mythische Geraune eines Peter Handke. Der hatte, Adornos viel zitiertes Diktum von der Lyrik nach Auschwitz aufgreifend, in seinem letzten Serbien-Buch "nach Auschwitz und zu Jugoslawien gerade Gedichte, nur noch Gedichte" gefordert. Tišma, der mit seinen Büchern nicht überreden oder aufklären will, schreibt in nüchterner Prosa über die Kriegsgräuel, nimmt die Zweifel über die Angemessenheit seiner Kunst aber mit in die Texte hinein. Der Serbe ist ein Meister seines Fachs, Erlösung erwartet er im Schreiben weder für sich noch für seine Leser.

In sieben der neun unterschiedlich langen Erzählungen steht am Ende ein gewaltsamer Mord, den Tišma bewusst nie in den Mittelpunkt der Handlung setzt, denn auf der Gewalttat selbst liegt das Augenmerk des Autors nicht. Es ist auch nicht so sehr das warum, als vielmehr die Frage, wie sich so ein Leben gestaltet, das die Ehefrau ihren brutalen Mann erschlagen, den verhinderten Dichter seine Frau und anschließend sich selbst töten, den alternden, kranken Musiker in eine letzte Leidenschaft zu einer Sängerin fallen und den mächtigsten Mann des Dorfes erschießen lässt, als er die Unerreichbare von diesem misshandelt sieht. Das erste Mal in seinem Leben, so kann man aus den allgegenwärtigen Demutsgesten des Akkordeonspielers schließen, hat er den Mut zu einer selbstbestimmten Handlung, und es wird auch seine letzte sein.

"Ein Musterbild der Liebe" handelt von der sexuellen Misshandlung eines Mädchens und der folgenden Gerichtsverhandlung. Aufbau und Plot dieser Erzählung erinnern an Kurosawas preisgekrönten Film "Rashomon", der die Vergewaltigung einer Frau und den Mord an ihrem Ehemann aus vier verschiedenen Perspektiven schildert und die Frage nach verschiedenen Wahrheitskonzeptionen stellt. Tišma lässt drei Personen in wechselnder Erzählhaltung über die Tat berichten, der Gerichtsvorsitzende ist ungläubig. Die Wahrheit steht hier von Anfang an fest, wie aber gehen Opfer, Täter und Zeuge damit um? Der Text handelt von den Möglichkeiten, eine Erschütterung, eine menschliche Katastrophe zu bewältigen, ohne aber eine als die richtige herauszustellen. Es gibt drastischere Darstellungen sexueller Gewalt, schockierendere. Tišma zeigt mit den Mitteln einer perfekt konstruierten Geschichte und präziser Sprache die Amoralität einer Gesellschaft, in der es das misshandelte Mädchen aus Angst vor der Schande zurück in die Arme ihres Vergewaltigers treibt.

Wahrheit kann durch Erinnerung hergestellt, aber auch zerstört werden. Die Wahrheit kann in der Zukunft, in unseren Konsequenzen aus dem Geschehenen liegen. Manchmal ist die Wahrheit auch der falsche Weg, immer aber ist sie in Tišmas Mikrokosmos der Opfer und Täter, der Ängstlichen und der Lüsternen, der Schweigenden und der Verräter schmerzhaft. "Ohne einen Schrei" ist, wie alle Bücher Aleksandar Tišmas, beängstigend und grandios.

Titelbild

Aleksandar Tisma: Ohne einen Schrei. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
227 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446199810

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch