Reise ins Mnemotop

Eine Aufsatzsammlung auf der Suche nach den Ursprüngen der deutschen Begeisterung für den Tropenwald

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die innige Beziehung der Deutschen zu ihren Wäldern, insbesondere zum soldatisch-straff aufgepflanzten "Heereswald", ist weithin bekannt. Aber an die Stelle des aufgräumten Forstes sind inzwischen andere Naturbilder und Vorstellungswelten getreten. Ein "deutscher Tropenwald", wie er in der Kolonialliteratur des 19. Jahrhunderts, in der Nachkriegsliteratur, im Film, im Schulbuch der 1990er Jahre oder in einigen Comics kultiviert wird, hat längst die ältere Symbolik des Geordneten, Überschaubaren und Uniformen überwuchert. Dafür spricht nicht zuletzt der simple Befund, dass in kaum einem anderen Land der Welt heute so viel Geld für die Erhaltung des Dschungels ausgegeben wird. Michael Flitner, der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, hat nun eine längst überfällige Expeditionsreise unternommen. Ziel seines Vorstoßes in ein noch nicht erschlossenes Terrain ist die Analyse der das bundesdeutsche Waldbild charakterisierenden Codes und Bedeutungsschichten. Denn der Wald ist kein Bio-, er ist ein Mnemotop.

Schon der einleitende Artikel Albert Wirz' über die von Basler Missionaren betreute deutsche Mission in Kamerun entlarvt den "Urwald" und mit ihm das prägende Epitaph der mönchischen Waldschilderungen als soziales Konstrukt. Es gibt keine von menschlicher Zudringlichkeit wirklich unberührte Grünfläche. Die braven Missionare verbanden mit dem Wildwuchs die Vorstellungen des Chaos, des Lebensfeindlichen sowie einer verschlingenden Sexualität, und sie besetzten die ökologischen Gegebenheiten in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Anthropogeographie auch moralisch. Während die gut belüfteten Stationen auf den Hügeln als vorzügliche Standorte galten, erinnerte der eintönige und dunkle Urwald den Missionar an die "Finsternisse des Heidentums". Das Zwielicht, die wild ineinander geflochtenen Pflanzen, die tausendfachen Lichtreflexe - das alles wird als verwirrend und angsteinflößend erlebt und durch Etablierung künstlicher Ordnungen zu bewältigen versucht: Literarisch durch metaphorische Dichotomien, künstlerisch durch den Aufbau von Perspektiven, durch Staffelung von Vorder- und Hintergrund, praktisch durch Waldrodung.

Allein, die mittels Malerpinsel oder Axt unternommenen Abwehrversuche des Unheimlichen waren nicht immer von Erfolg gekrönt. Bei den Missionaren nicht (der Regenwald eröffnete ihnen bisweilen auch ein freies, glücksbetontes Auskosten von Gefühlen und Körperlichkeit, also Entlastung von zivilisatorischen Konventionen), und auch nicht in den Kongogeschichten, wie sie parallel zum Mitte der 1880er Jahre vollzogenen Aufstieg Deutschlands zur Kolonialmacht entstanden. Offenbar entspricht den Versuchen einer Zivilisierung der unbezähmten Natur auf der anderen Seite eine Dezivilisierung oder Regression eines kulturell nicht dauerhaft niederzuhaltenden Habitus. Lässt sich Frieda von Bülows Roman "Tropenkoller" noch als Versuch lesen, die Form- und Konturlosigkeit der sumpfigen, von Malariaerregern bevölkerten Natur auf die eigene Gesellschaft zu reapplizieren und umgekehrt die echte Wildnis in eine (wenn auch auf unsicherem Morastboden errichtete) "tropische Gartenlaube" zu verwandeln, so muss die Beurteilung der Schriften Wilhelm Jensens wenigstens tendenziell anders ausfallen.

So heißt es in der eindringlichen Analyse Wolfgang Strucks: "Es hat [...] weniger mit der realen Topographie zu tun, dass der Weg der Kolonisten nicht so sehr in die Wüsten und Bergschluchten eines Kara Ben Nemsi führt. Konnte der einsame Reiter an der kargen Erhabenheit einer harten, klar konturierten Landschaft zugleich das eigene Ich festigen und aus der gewonnenen Souveränität sich dann auch der Umgebung [...] assimilieren, so erscheint schon die kleinste symbiotische Annäherung an die fieberdünstigen Tropen als fatale Verstrickung. Kein noch so scharfer Blick durchdringt das Laub- und Blütengewirr, kein noch so sicherer Tritt findet Halt in bodenlosem Morast, kein noch so starker Arm zerbricht die Umklammerung elastischer Pflanzen, die umso heftiger zurückfedern, je kraftvoller man sie von sich stößt, kein noch so fester Wille schüzt vor dem heimtückischen Angriff unsichtbarer Fiebergifte."

Es ist ein Irrglaube der Kolonisatoren, der überbordend-zerstörerischen Vitalität des Urwalds Herr werden zu können. Und so gelang es Jensen nur indirekt, oder, um im Bild zu bleiben, über verschlungene Dschungelpfade, die koloniale Ideologie noch einmal zu mobilisieren: Durch die Auflösung der mitgebrachten Sichtweisen in einem exterritorialisierten Binnenraum der europäischen Verhältnisse (erkennbar schon an der von ihm und anderen betriebenen Erotisierung der afrikanischen Welt) und die Neuaufrichtung eben jener symbolischen Ordnung mit der Rückkehr der Protagonisten in die zivilisierte Heimat. Ist das bloße "Kolonialapologetik", wie Struck behauptet, oder verbirgt sich dahinter nicht vielleicht der Versuch einer Regeneration und Revitalisierung erstarrter Konventionen?

Die deutschen Tropenwälder seien "durchweg Gegenorte", meint dagegen Peter Langlo, Orte der Wildnis gegen die Zivilisation, der Verzauberung gegen Nüchternheit und Barbarei usw., und er hat damit vermutlich ebenso wenig Recht wie sein Vorredner. Die Frage muss doch vielmehr lauten, in welcher Weise wir die eigenen Verhältnisse in den vermeintlich exotischen oder utopischen Außenräumen inszenieren. Dennoch führt Langlo eine Reihe deutschsprachiger Exil- und Nachkriegsliteratur an, die den Urwald zur Einschreibfläche der Kritik am europäischen Zivilisations- und Expansionsprojekt werden lässt. In Döblins Amazonas-Trilogie verschwistert sich das Lob der naturversöhnten und geordneten Urwald-Kultur mit der Angst der Männer vor der ungezügelten weiblichen Natur, der eine tödliche Anziehungskraft innewohnt. Der Wald ist Ort des Begehrens, aber auch der Begehrensabwehr. Und auch in Max Frischs "Homo Faber" erscheint der Urwald sexualisiert; ein den männlichen Abenteurer einverleibender Nährstoffkreislauf aus ungeschiedenen Elementen wie Schlamm, Schleim, Wasser, Moder und Dickicht löst Kastrations- und Vermischungsängste aus. Vergleichbare Symbolisierungen finden sich bei Joseph Conrad und Urs Widmer. Noch einmal: Wenn sich das Modell des aufrechten und moralisch gestärkten Mannes in den verführerischen Wäldern des Südens gerade nicht bewähren kann, welchen (unterdrückten) Bedürfnissen trägt seine Dekomposition dann Rechnung?

Ich überspringe die nur bedingt lesenswerten Beiträge über den deutschen Generalinspektor Sir Dietrich Brandis, den Filmproduzenten John Hagenbeck, die schuldidaktische Regenwaldvermittlung und einige andere. Aus Georg Seeßlens Artikel über die Semiotik der Pflanze im Wäscher-Comic möchte ich zumindest einen Satz anführen, der noch einmal die Distanz der floralen Komplexität, Polysemie und 'Unlesbarkeit' der Tropen zu seinem baum- und strauchlosen (und deshalb leichter beherrschbaren!) Pendant hervorhebt. Die Gegenwelt zum unübersichtlichen und unwegsamen Dickicht ist die geheimsnislose 'Verkehrsfläche' der Prärie: "Übrigens ist es Karl May nicht genug zu danken, dass er zwar Wüste und Westen aufs genaueste [...] beschrieb, sich aus dem Urwald indes weitgehend heraushielt. Schönster Dschungeltraum: die Welt, in der Kara Ben Nemsi weder etwas zu suchen noch etwas verloren hat." In den gezeichneten Tropen sind im Wesentlichen zwei ikonografische Komplexe miteinander verwachsen: der Tropentraum der amerikanischen Pop-Kultur und der ältere deutsche Eroberungstraum.

Dass man in Deutschland von den Tropen spricht, ist in erster Linie das Verdienst Alexander von Humboldts. Bei Humboldt, so Nana Badenberg, falle der enthusiasmierte Blick des Reisenden auf eine nie gekannte Naturfülle. Entsprechend mit Bedeutung aufgeladen ist die ästhetische Inszenierung des Reichtums der Tropennatur. Humboldt etabliert ein neues Wahrnehmungsmuster, seine Bergbesteigungen eröffnen einen panoramatischen Blick auf die umgebende Natur. Die naturkundliche Bestimmung und Zergliederung einzelner Pflanzen durch Menschenhand tritt hinter eine auf "Totalität und Überblick" gerichtete Sichtung ihrer urtümlichen geografischen Verteilung zurück. Deswegen hatten die Tropenmaler, die von Humboldt gefördert wurden und die er zur Illustration seiner Reiseberichte heranzog, in seinen Augen auch das Recht, aus exemplarischen Pflanzenformen ein vollständiges aber imaginäres Idealbild zusammenzustellen. Badenberg zeigt sehr differenziert, welcher unterschiedlicher künstlerischer Mittel sich die Malerei bediente, um die ungeordnete Natur in ästhetische Kompositionen umzuwandeln. Erst spät wird die Liebe zum lehrreichen und pittoresken Gegenstand durch impressivere, die Farb- und Lichtverhältnisse des Tropenwaldes akzentuierende Stimmungsbilder abgelöst.

Mit nicht geringeren Mühen als die Tropenmaler betreibt ein später Nachfahre Humboldts, der "Urwalddoktor" Albert Schweitzer, die deutsche Eingemeindung des Urwalds. Mittelpunkt von Schweitzers missionarisch-ärztlichen Bemühungen ist das zentralafrikanische Lambarene, das von Schweitzer zur Eindämmung der Dschungelkrankheiten wie Malaria und Gelbfieber mit Krankenstationen und Spitälern ausgestattet wird. Caroline Fetschers herausragender Beitrag versucht den exterritorialen Deutungsraum Lambarene semantisch zu füllen: Lamabarene bot sich an, die Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur zu verarbeiten - aber auch zu wiederholen. Schweitzer legitimiert das weiterhin hierarchisch organisierte Zusammenleben aller Rassen und Kulturen als eine aus der Schöpfung hervorgegangene Ordnung. Als "paternalistischer Hirte", d. h. als ein seiner negativen Konnotationen entkleideter Besatzer, wacht er über den (Wieder-)Aufbau der (Kranken-)Lager. "Lambarene ist also ein europäisch-deutsches Transplantat von 'Kultur' hinein in einen als fremd deklarierten 'Dschungel', es ist Fortsetzung von Herrschaft, Wiedergutmachung und Utopie in einem."

"Als Bühne einer prekären Identitätssuche der Deutschen nach dem NS-Faschismus, die in der Form eines Naturschauspiels vonstatten ging", beurteilt Flitner die Bücher und Tierfilme Bernhard Grzimeks. Grzimek scheint den Kolonialgedanken im Umweg über die Tiere noch einmal zu verabschieden. Zwar entspricht den "Tieren ohne Platz" passgenau das "Volk ohne Raum", doch soll der unendliche und riesige Urwald vor den sich vermehrenden Menschenmassen gerade in Schutz genommen werden. So schreckte der Tierfreund Grzimek nicht davor zurück, die Segnungen der Bilharziose, der Malaria und des Hungers zu preisen, weil diese Heimsuchungen den Menschen den Weg in die Natur versperren. Für ihn wird Zentralafrika nicht vor, sondern von der Tsetsefliege beschützt. Allerdings vertritt Grzimek innerhalb dieser Entgegensetzung durchaus die Ideologie einer 'weißen' Herrschaft, repräsentiert durch die Hierarchie zwischen 'Negern' und infantilisierten Pygmäen, denen als dritte Kraft das bedrohte Okapi als Repräsentant des deutschen Volkes an die Seite gestellt wird.

In zwei Filmen des Regisseurs Werner Herzog wird der Tropenwald zum Schauplatz menschlichen Größenwahns. In "Aguirre, der Zorn Gottes" (1972) und "Fitzcarraldo" (1982) wird die Distanz des wahnsinnigen, mit den Elementarkräften des Urwaldes ringenden Protagonisten (in Gestalt Klaus Kinskis) zum kontrollierteren Kolonialismus westlicher Prägung durch die erneute Einsetzung kolonialistischer Naturmetaphorik und der technologischen Eroberung der Natur eingeholt. Die Tiefe und Undurchdringlichkeit des südamerikanischen Waldes als das Sinnbild eines erschreckend 'Anderen' ist allerdings dahin, sobald man über den Entstehungskontext von "Fitzcarraldo" informiert wird. Denn während sich die Menschen am Ende des Films aus dem Dschungel zurückziehen, ließ Herzog im Vorfeld der Aufnahmen große Waldflächen roden und planieren - ohne den angerichteten Schaden später wieder zu beheben.

Darin offenbart sich noch einmal, was die Deutschen am Tropenwald wohl am meisten schätzen: Nicht die ihn bevölkernde Flora und Fauna, sondern seine anregende Wirkung auf die ästhetisch-politische Fantasie seines Betrachters. Ausgerechnet im Fremden, in den jedem Augenschein entzogenen und symbolisch-imaginär unendlich besetzbaren Enklaven, kann sich das erschütterte Deutschland heimlicher und heimeliger spiegeln als in den Verhältnissen vor der eigenen Haustür. Nach der Lektüre dieses höchst lesenswerten Bandes wird man den Gummibaum in der Ecke des Wohnzimmers zweifellos mit anderen Augen betrachten.

Titelbild

Michael Flitner (Hg.): Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
312 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3593366223

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