Von der Algenpest ist wenig geblieben

Hans-Ulrich Wehlers Skizze nicht nur der deutschen Geschichtswissenschaft seit 1945

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um Missverständnissen vorzubeugen: Hans-Ulrich Wehlers Essay bewegt sich keinesfalls - auch wenn sein Titel diesen Eindruck erwecken könnte - in den spekulativen Bahnen des "Geschichtsdenkers" Ernst Nolte, der überdies seine Thesen mit Vorliebe in indirekter Frageform präsentiert. Der Bielefelder Historiker beschäftigt sich vielmehr ganz "handfest" mit der Entwicklung der amerikanischen, englischen und französischen, vor allem aber der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, reagiert noch einmal auf die "Herausforderung der Kulturgeschichte" (so der Titel seines 1998 erschienenen Essaybandes) und erläutert schließlich die wichtigsten nationalen wie internationalen Theorieströmungen seit 1945. Auch muss man bei Wehler nicht zwischen den Zeilen lesen, um seine Intentionen zu erraten: Die Artikulation der "erkenntnisleitenden Interessen" sowie der "theoretischen Prämissen" ist für ihn eine Selbstverständlichkeit.

In den USA habe die lange Zeit vorherrschende positivistische Tradition die rasche Verbreitung modischer Trends wie der "Psycho-History", der "Cliometry" oder der "New Social History" ermöglicht, die jedoch ebenso schnell wieder verschwunden seien und deren Bilanz bestenfalls zwiespältig ausfalle. Gleichzeitig verweist Wehler auf eine Vielzahl hervorragender amerikanischer Historiker, ja einen "Quantensprung" der Geschichtswissenschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte - nicht zuletzt ein Resultat ihrer "unbefangenen Rezeptionsbereitschaft".

Von den anderen behandelten Ländern unterscheidet sich Großbritannien durch die Existenz einer größeren Zahl bedeutender marxistischer Historiker. Die Werke Eric Hobsbawms, E. P. Thompsons und vieler anderer beweisen, so Wehler, wie fruchtbar der unorthodoxe Marxismus für die Geschichtswissenschaft sein kann. Aber auch Neo-Marxisten wie Geoff Eley und David Blackbourn erhalten diesmal gute Noten; Wehler hat ihnen ihre Attacken auf seine Sonderwegthese zu Beginn der 1980er Jahre offenbar verziehen: Reagierte er damals überaus heftig, nennt er sie heute eine "belebende Infragestellung".

In Frankreich konnte sich die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche "Annales"- Schule gegen die traditionelle Politikgeschichte behaupten, blieb allerdings zum großen Teil auf Mittelalter, Frühe Neuzeit und Ancien Régime beschränkt; Studien zur nachrevolutionären Zeit brachte sie kaum hervor.

Wehlers Hauptaugenmerk gilt der deutschen Geschichtswissenschaft, die bis Anfang der 1960er Jahre ein "selbstgenügsamer Traditionalismus" beherrscht habe. Er betont zwar die Bedeutung der damals ausgetragenen "Fischer-Kontroverse", kritisiert aber die "methodisch und theoretisch bedrückend konventionellen Studien" des Hamburger Historikers. Auch deshalb könne man nicht von der Existenz einer "Fischer-Schule" sprechen. Die weitreichenden Veränderungen der nächsten drei Jahrzehnte wurden nach Wehler vielmehr von der Wirtschafts-, der Zeit- und der Sozialgeschichte bewirkt. Letztere sei zwar von Werner Conze gefördert, "am nachhaltigsten aber von Hans Rosenberg" beeinflusst worden - indirekt und überzeugend wendet er sich hier gegen den Vorwurf, die Sozialgeschichte habe "braune Wurzeln". Kaum innovatorische Impulse seien hingegen von der durch "methodische und theoretische Stagnation" geprägten Politikgeschichte ausgegangen - eine wenig überraschende Feststellung; gehört solcherlei Kritik ebenso wie heftige Auseinandersetzungen mit Politikhistorikern (früher Andreas Hillgruber, heute Klaus Hildebrand und Gregor Schöllgen) zu Wehlers Lieblingsbeschäftigungen. Mit dem Theorieinteresse der Sozialhistoriker habe sich die Bereitschaft zu (wissenschafts-)politischem Engagement verbunden; Letzteres sei überhaupt charakteristisch für die zwischen 1925 und 1940 geborenen, nicht nur der Sozialgeschichte verpflichteten Historiker.

An dieser Stelle setzt die Wehler'sche Kritik der "neuen Kulturgeschichte" an. Ihren Protagonisten wirft er eine "apolitische Grundhaltung" vor, keiner von ihnen habe sich an Wissenschaft und Politik verbindenden Kontroversen wie dem "Historikerstreit", der "Goldhagen-Debatte" oder der Auseinandersetzung um die "Wehrmachtsausstellung" beteiligt. Als weitere Defizite nennt Wehler die Vernachlässigung von Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte, die Ersetzung kausal-funktionaler Erklärungen durch reine Deskriptionen sowie den oft amorphen Kulturbegriff. Zudem werde das innovatorische Potential der "neuen Kulturgeschichte" überschätzt; viele scheinbare Errungenschaften des "linguistic turns" fänden sich bereits bei der klassischen Hermeneutik Droysens und Diltheys. Trotzdem plädiert er für eine Kooperation zwischen Sozial- und Kulturgeschichte, sei doch auch Erstere nicht frei von Mängeln, da sie etwa die Handlungsfähigkeit individueller Akteure vernachlässige.

Gegen Wehlers Ausführungen lässt sich gewiss manches einwenden. Erst kürzlich hat Richard Evans die Bezeichnung der "English Historical Review" als "absolut zuverlässiges Schlafmittel in jeder ordentlichen Hausapotheke" kritisiert. Und auch Foucaults Charakterisierung als "Repräsentant der postmodernen Denkverwilderung" dürfte umstritten sein. Doch trotz aller Übertreibungen argumentiert Wehler insgesamt durchaus differenziert. Gleichwohl geht es ihm nicht um die Erreichung eines allgemeinen Konsenses, sondern um die Darlegung seiner eigenen Position. Und diese bleibt - trotz aller Lernbereitschaft - die eines Sozialhistorikers. Deutlich wird das bei seinem abschließenden Urteil über das postmodernistische Denken: Wie eine Algenpest sei es über den geschichtswissenschaftlichen Strand hereingebrochen, habe zeitweilig für einen "exotischen Anblick" gesorgt. Doch unter dem Einfluss der mächtigen Kräfte Sonne, Wind und Wasser habe es sich wieder verflüchtigt - von den Algen sei wenig geblieben.

Titelbild

Hans-Ulrich Wehler: Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts. 1945 - 2000.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
108 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892444307

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