Nicht nur Romantik

Georg Andreas Reimer und sein Verlag, geschrieben von seiner Ur-Ur-Urenkelin

Von Ute SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den traditionellen Aufgaben buchwissenschaftlicher Forschung gehört neben der Edition von Verleger-Autoren-Korrespondenzen die Verlagsgeschichtsschreibung, und zwar sowohl die Analyse der Geschichte einzelner Verlage wie auch die Beantwortung übergreifender Fragestellungen zur allgemeinen Buchhandelsgeschichte. Es bieten sich verschiedene Perspektiven an, unter denen Verlagsgeschichte geschrieben werden kann: chronologisch-personengeschichtliche, systematisch nach Unternehmensformen oder -programmen angelegte, die meist die Verlegertypologie fokussieren, wirtschaftshistorische, die in ihrer ökonomischen Orientierung das Wirtschaftsunternehmen in den Vordergrund rücken, literaturgeschichtliche im Hinblick auf berühmte Autorennamen wie auch geistes- oder kulturgeschichtliche. Der methodische Zugriff in der Verlagsgeschichtsschreibung basiert meist auf einer dezidierten Quellenkritik.

Doris Reimer hat sich in der vorliegenden Dissertation zur Aufgabe gemacht, den als Verleger der Romantik bekannt gewordenen Georg Andreas Reimer, dessen Verlagsprogramm wie auch seine Beziehungen zu den Verlagsautoren zu analysieren. Die bei Reimer verlegten Werke der Schriftsteller Novalis, Jean Paul, Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, E.T.A. Hoffmann und der Brüder Grimm verweisen auf die Bedeutung des Verlags für die deutsche Literaturgeschichte. Zugleich ist es das Anliegen der Verfasserin, den Verlag als Wirtschaftsunternehmen zu beleuchten, worauf der Exkurs "Was der Taler damals wert war" im ersten Teil der Studie bereits hindeutet.

Als Quellen dienten der Autorin die Verleger- und Autorenbriefe, Briefkopierbücher (1815-1841), Generalbilanzen, die Hauptbücher des Verlags wie auch die Verträge mit den Autoren. Die Quellenlage zur Rekonstruktion der verlegerischen Arbeit stellt sich in diesem Fall im Gegensatz zu Forschungen über andere Verlage als ausgesprochen günstig dar. Die Dokumente stammen hauptsächlich aus dem Archiv des Berliner Verlags de Gruyter, in dessen Besitz der Reimer Verlag 1919 übergegangen ist.

Doris Reimer beginnt den analytischen Teil ihrer Arbeit mit der "Entstehung und Entwicklung der Firma Reimer", wobei sie der Darlegung der Sozialisation des Verlegers um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert relativ großen Platz einräumt. Reimer stammte aus finanziell solidem bürgerlichen Milieu und knüpfte mit seiner Berufswahl an die kaufmännische Tradition seiner Familie an, wobei er im Berliner Buchhändler Johann Daniel Sander einen Freund und Förderer findet, über den er auch erste Kontakte zu Schriftstellern aufnehmen kann. 1800 übernimmt Reimer die Berliner Realschulbuchhandlung als Grundstock für den eigenen Verlag, und 1822 etabliert er durch den Ankauf der renommierten Weidmann'schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig einen zweiten Verlagssitz in der sächsischen Buchhandelsmetropole.

Dem vorwiegend aus Briefquellen dargestellten Verhältnis zwischen Sander und Reimer folgt die chronologische Vorstellung von "Phasen der Verlagsgeschichte", die die Verfasserin "teilweise aus der Biographie des Verlegers, teilweise aus Umzügen und damit verbundenem Neubeginn und aus äußeren Ereignissen" ableitet. Zu diskutieren ist hier jedoch, ob die Chronologie äußerer Umstände, wozu auch Umzüge gehören, eine in der Verlagsgeschichtsschreibung legitime Differenzierung von Phasen sein kann oder darf, oder ob es nicht wesentlich mehr Sinn macht, aus der inneren Entwicklung des Verlags, also aus dem möglichen Wandel seines Programms, seinen verpflichteten Autoren, aus der strategischen Vorgehensweise des Verlegers etc. Kriterien für die Abgrenzung von Phasen zu entwickeln, zumal die Autoren des frühen Verlagsprogramms wie Fichte, Schleiermacher und die Brüder Schlegel von der Autorin als programmbildende Autoren charakterisiert werden.

In der statistischen Analyse des Verlagsprogramms nach Sparten wird schnell deutlich, dass Reimer keineswegs lediglich der Verleger romantischer Literatur war. Im quantitativen Vergleich fallen die medizinischen, die naturwissenschaftlichen Titel, Religion und Philologie zusammengenommen viel stärker ins Gewicht als die Belletristik. Reimer verstand sich vor allem als wissenschaftlicher Verleger, der den Werken der Berliner Universitätsprofessoren einen Publikationsort bieten wollte. Die Verlegung von Schul- und Gesangbüchern ist einerseits aus der Fortsetzung der Tradition der von Reimer übernommenen Realschulbuchhandlung zu verstehen, andererseits bilden diese Verlagsprodukte eine solide Einnahmequelle durch die zwar schon lange eingeführte, nun aber erst weitgehend durchgesetzte allgemeine Schulpflicht in Preußen.

Der Analyse des Verlagsprogramms schließt sich die Untersuchung des Verlags als Geschäftsbetrieb an, in der exemplarisch Verlagsverträge, Honorarusancen und Auflagenkalkulationen aus den Hauptbüchern des Verlags rekonstruiert werden. Gespiegelt werden die komplexen wirtschaftlichen Faktoren von den rechtlichen Rahmenbedingungen. Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 regelte die juristische Seite der Autor-Verleger-Beziehung und erlaubte dem Verleger grundsätzlich die Veranstaltung neuer Auflagen eines einmal in Verlag genommenen Werkes, ohne Rücksprache und Entlohnung des Autors, was auch im Falle des Reimer Verlags zu Turbulenzen mit den Verlagsautoren führte. Die angeführten Details im alltäglichen Geschäftsbetrieb, angefangen von Druck- und Satzkosten, Papierkosten, Kapitalbeschaffung über die Zahlungsmodalitäten bei Autorenhonoraren wie auch deren Sonderregelungen bei der Auszahlung erlauben - wenn auch anhand ausgesuchter Beispiele - einen guten Einblick in das verlegerische Geschäftsgebahren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Weitere Details zur Autor-Verleger-Beziehung erfährt der Leser nach den allgemeinen Betrachtungen im letzten Hauptkapitel der Arbeit, das nun doch vor allem "Reimer als Verleger romantischer Literatur" herausstreicht. In den Verhandlungen der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann, August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und der Brüder Grimm mit dem Verleger zeigt sich deren "realitätsfester Geschäftssinn", der zur Kommerzialisierung und Vermarktung ihrer Werke durchaus beitrug. Ausstattungsfragen bei der Drucklegung, die Ermittlung der jeweiligen Käuferzielgruppe und immer wieder Honorarfragen führten teilweise zu harten Auseinandersetzungen zwischen den Autoren und ihrem Verleger und bestimmten die Veröffentlichungsgeschichte ihrer Werke.

Die Stärke der Arbeit liegt eindeutig in der Aufarbeitung und Darlegung des quantitativ wie qualitativ überaus reichen Quellenmaterials, das in manchen Fällen die detailgenaue Rekonstruktion der Verlagsgeschichte zulässt. Davon zeugt auch die dem Druck beigelegte CD-ROM mit weiteren Dokumenten zur Verlagsgeschichte (ausgewählte Korrespondenzen, Transkription von Hauptbuchkontoseiten, Verlagskatalog von 1843 etc.) und Ergänzungen. Hinter der Ausbreitung der Materialfülle steht allerdings die Reflexion über den theoretischen Zugang zum Bearbeitungsstoff weit zurück, was eine Einordnung der Dissertation in die Buchhandels- und Verlagsgeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert erlaubt hätte. Die Einbeziehung von Forschungen zu anderen Verlegern beispielsweise hätte zumindest eine Vergleichsmöglichkeit gewährleistet, aus der sich Rückschlüsse über die Besonderheiten des Reimer Verlags ziehen oder ihn als typischen Verlag der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen ließen. Legitimieren lässt sich dieser Mangel nur aus dem Verständnis der Verfasserin, mit der vorliegenden Studie eine "Vorarbeit für die überfällige Reimer-Biographie" geleistet zu haben.

Titelbild

Doris Reimer: Passion & Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer (1776-1842).
De Gruyter, Berlin/New York 1999.
459 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110166437

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