Wo liegt der "Orient" der "Orientierung"?

Ernst Wolfgang Orth justiert den kulturellen Kompass

Von Bernd HamacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Hamacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn der in den verschiedensten Diskursen allgegenwärtige Begriff der Kultur zum Gegenstand philosophischer Analyse wird, folgt zumeist die Kritik an seiner Unschärfe oder gar Beliebigkeit auf dem Fuße. Kaum einmal wird dagegen umgekehrt die unhintergehbare Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs als Gewinn verbucht. Umso größere Aufmerksamkeit gebührt daher dem Versuch des Trierer Philosophen Ernst Wolfgang Orth, Kulturphilosophie als zeitgemäße philosophia prima zu konzipieren und den Kulturbegriff in seiner Homonymität als Erben des aristotelischen Seinsbegriffs und zugleich als "reduzierte[n] Restposten der metaphysica specialis" zu erweisen.

Damit ist bereits angedeutet, dass Orth sich zunächst ganz bewusst von gegenwärtigen kulturanthropologischen Debatten - wie etwa der Postkolonialismus- und Interkulturalitätstheorie - fern hält und selbstbewusst, aber unpolemisch die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wurzeln der modernen Kulturwissenschaft etwa bei Trendelenburg, Lotze oder Dilthey freilegen will. Wenn er dabei immer wieder auf die philosophische Anthropologie von Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner, die Phänomenologie Edmund Husserls sowie Ernst Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen" rekurriert, so sind damit seine historischen und systematischen Präferenzen benannt. Keineswegs ist jedoch bei seinen Untersuchungen das philosophiegeschichtliche Interesse leitend; wenn er die Kulturanthropologie als zeitgenössische Gestalt der Metaphysik identifizieren will, gelingen ihm vielmehr immer wieder überraschende Anschlüsse an aktuelle Problemlagen unterschiedlicher Lebensbereiche.

Orths Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen vorwiegend aus den achtziger und neunziger Jahren, die nach vier Themenbereichen gruppiert sind. Die Positionsbestimmung des Kulturverständnisses zwischen Anthropologie und Metaphysik erfolgt im vierten und letzten Teil. Aus einem transdisziplinären Blickwinkel verdienen die Beiträge der ersten Gruppe besonderes Interesse, die die Medialität menschlicher Orientierung untersuchen. Im Versuch, den Kulturbegriff zu definieren, wählt Orth die Grundformel "Welt des Menschen". Die Unmöglichkeit einer begrifflich eindeutigen Definition von Kultur und die Notwendigkeit, umschreibende Übersetzungen - also Metaphern - zu verwenden, verdeutlichen, dass das menschliche Weltverhältnis immer schon unhintergehbar metaphorisch und in seiner Orientierung auf mediale Vermittlung angewiesen ist, wie Orth am metaphorischen Begriff der Orientierung selbst veranschaulichen kann: 'Orientieren' bedeutet ursprünglich 'den Orient finden', also den Ort des Aufgangs der Sonne als Ermöglichungsgrund menschlicher Erkenntnis. Bereits Derrida hatte gezeigt, dass die Sonne als das vermeintlich Natürliche den Raum der philosophischen Sprache strukturiere, dabei jedoch, als der sinnlichen Wahrnehmung überwiegend entzogen, stets schon metaphorisch, das "Natürlichste" also immer schon ein Künstliches sei, das, wie Orth betont, auf mediale Vermittlung angewiesen ist. Grundlegendes Medium der Vermittlung von Kultur ist dabei für ihn der Leib als Medium räumlicher Orientierung, dem er weitere Medien zur "Orientierung über Orientierung" zur Seite stellt, deren wichtigstes die Sprache ist. Dass "naturhafte" und "kulturelle" Medien bei der Konstituierung der "Welt des Menschen" zusammenwirken, ist ihm ein Argument für die immer wieder betonte These, dass Natur und Kultur nicht zu trennen seien und der Mensch selbst (nach Cassirer) als Korrelation von Sinnlichkeit und Sinn die symbolische Form ihrer Verbindung verkörpere. Der aufs "Wesentliche" gehende moderne Mensch leide freilich an seiner eigenen Medialität, nämlich daran, "daß die Vernunft in physiologischer und interaktiv-sinnlich gesellschaftlicher Vermittlung auftritt, z. B. als Mann und Frau und was dergleichen natürlicher und gesellschaftlicher Medialisierungen mehr sind".

Durch die Metapher der Orientierung wird deutlich, dass die orientierende Bezugsgröße der Kultur außerhalb ihrer selbst liegt, eben im 'Orient' als der Konstruktion dessen, was der eigenen Kultur als das Fremde gegenübergestellt wird. Diese diskursive Anschlussstelle lässt Orth zwar ungenutzt, doch gerade seine metaphorologischen Überlegungen laden zum Weiterdenken ein. Sein Entwurf der Metaphorizität von Kultur als "Orientierung über Orientierung" scheint unversehens Anleihen bei zwei Denkschulen zu nehmen, die gemeinhin als unvereinbar gelten: Mit Blumenberg (der freilich in diesem Kontext nicht genannt wird - Orth hält Distanz zur Hermeneutik) kommen Metaphern als Grenzwerte des Bezugs auf "Totalhorizonte" in den Blick, mit Derrida wird die différance als "Vorrang der Medialität vor der wahren Gegenwart des Geistes" betont.

In der zweiten Gruppe der Beiträge beschäftigt sich Orth mit Fragen des Ethos. Auch hier geht es ihm um die Konkretisierung von Kultur, wenn er konkreten Lebensformen gegenüber moralischen Normansprüchen und universalen Werten den Vorzug gibt. Diese sieht er vielmehr als bloße Surrogate, die "die Verunsicherung auf dem Felde der Lebensformen gleichsam abblenden" müssen. Eine Kritik, die Orth hier nur als konservativen Anwalt traditioneller Umgangsformen sähe (der er natürlich auch ist), würde zu kurz greifen. Sein Plädoyer, das "Spannungsverhältnis zwischen Lebensform und Normen" auszuhalten, also die kulturellen Werte in ständiger gesellschaftlicher Anstrengung immer wieder neu auszuhandeln, verdient gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Gentechnologie-Debatte Gehör. Mit seinem "Eindruck einer gewissen Verblasenheit von Grundwerte-Diskussionen oder auch der Weltfremdheit und des Scholastizismus von meta-ethischen Kalkülen" steht er sicherlich nicht alleine da.

Die "jeder Kultur immanente Kulturkritik" beleuchtet Orth im dritten Teil vornehmlich anhand der Begriffe 'Ideologie' und 'Ideologiekritik', wobei der kritische Impetus bereits im ursprünglichen Begriff von Ideo-logie steckt, der im 18. Jahrhundert in Frankreich entwickelt wurde, und der spätere Begriff der 'Ideologiekritik' insofern ein Pleonasmus ist. Orth geht es um die Zerstörung der Illusion, als könne ein kulturkritisches Verfahren als "Orientierung über Orientierung" eine Position außerhalb der Bedingtheiten dieser Orientierung beziehen. Andererseits sei immanente Kulturkritik nicht nur unvermeidlich, sondern auch notwendig als Flexibilisierung menschlicher Orientierungen, die immer im Wechselspiel von "Stabilisierung und Verflüssigung" verliefen. Der kulturelle Kompass muss also gleichsam immer wieder neu justiert, der 'Orient' ständig neu gesucht werden. Die Möglichkeit dafür sieht Orth in der Fähigkeit des Menschen, zwischen verschiedenen Orientierungen zu "gleiten", also "beispielsweise eine religiöse mit einer ästhetischen und sozialen 'Weltsicht'" zu verbinden. Diese Fähigkeit des Einstellungswechsels komme einer inner-personalen Multikulturalität gleich.

Die Anknüpfung an Cassirers Symbolbegriff impliziert, dass Medien für Orth stets auf Bedeutung angelegt sind: "McLuhans These: 'Das Medium ist die Botschaft' ist eben nur ein Aperçu, das vergessen machen möchte, daß dieser Satz selbst vor allem eine Botschaft - und nicht nur Medium - ist, also eine Bedeutung hat." Daher sei zwar keine sinnhafte Orientierung ohne Medien möglich, aber auch kein Medium ohne Sinnhaftigkeit. In der Gegenwart freilich - und hier liegt Orths eigener kulturkritischer Impetus - mangele es an Kompetenz, die Bedeutungen in ihrer unvermeidlichen Medialität zu erkennen: "In der Tat hat - so gesehen - in der modernen Welt das Medium ein Übergewicht über die Botschaft erlangt - und zwar in dem Maße, als die Fähigkeit, den Sinn des Mediums distanziert zu bewerten, abnimmt."

Die Kompositionsform des Buches bringt es mit sich, dass der Vollzug der Lektüre gleichsam selbstreferentiell Orths These bestätigt. Bei einer Aufsatzsammlung zu einem gemeinsamen Themenkomplex kann es nicht ohne argumentative Schleifen und Redundanzen abgehen. Spätestens beim zweiten Aufsatz zur "Orientierung über Orientierung" glaubt man über die Thesen orientiert zu sein, so dass die Bedeutungen fortan "nicht sosehr rational gedacht als vielmehr ästhetisch und kinästhetisch praktiziert" zu werden drohen. Man wird gut daran tun, Orths schneidende, aber doch mit einem leichten Schmunzeln vorgetragene Kritik an einer solchen Rezeptionshaltung zu beherzigen und die Flexibilisierung kultureller Einstellungen auch bei der Lektüre einzuüben. Dann nämlich wird jede Disziplin, die sich mit "Kultur" als "Welt des Menschen" beschäftigt - und das sind, wie man mit Orth betonen kann, schlechterdings alle -, viel von seinem anregenden Entwurf lernen können.

Titelbild

Ernst Wolfgang Orth: Was ist und was heißt "Kultur"? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
268 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826019083

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