Experimente zum 'Fall' der Kunst

Bernhard Greiner zu "Kleists Dramen und Erzählungen"

Von Andrea EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit."

So beginnt die Erzählung von Michael Kohlhaas. Seit ihrem Erscheinen 1810 sind nun fast zweihundert Jahre vergangen, und noch immer ist die Faszination an den Werken Heinrich von Kleists ungebrochen. Sekundärliteratur zu "Michael Kohlhaas", der "Marquise von O...", "Prinz Friedrich von Homburg" oder dem "zerbrochne[n] Krug" füllt Regalmeter in den Bibliotheken und ist kaum vollständig zu überblicken. Brauchen wir zu den zahlreich vorhandenen Interpretationen der Werke Kleists also tatsächlich noch eine neue?

Die Antwort lautet ja. Bernhard Greiner, Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Tübingen, hat jetzt eine vierhundert Seiten starke Arbeit zu "Kleists Dramen und Erzählungen" vorgelegt, die einen neuen Blick auf das Gesamtwerk Kleists ermöglicht.

Grundlage der vorgelegten Interpretationen ist Kleists philosophische Krise im Jahr 1801. Ausgelöst durch den zweiten Teil von Kants "Kritik der Urteilskraft", der teleologischen Kritik, und der darin enthaltenen Infragestellung der Gewissheit des menschlichen Wissens, manifestiert sie sich in Kleists erkenntnistheoretischen Zweifeln. Aus einer Infragestellung der Gewissheit des menschlichen Wissens wird bei Kleist eine Infragestellung der Wahrheit selbst. Den Ausweg aus der 'Kant-Krise' findet Kleist nun im ersten Teil der "Kritik der Urteilskraft". Kant zeigt in der Auseinandersetzung mit der Ästhetik, dass der Mensch durch die Erfahrung des Schönen und Erhabenen über die Sinnenwelt hinaus zu den Vernunftideen und damit zur sittlichen Welt geführt werden kann. Kleist versteht die Erfahrung des Schönen und Erhabenen als Befreiung. Durch sie vollzieht er schließlich die Hinwendung zur Kunst. Das geschieht zunächst rezeptiv, indem er beispielsweise in Essays über Erfahrungen des Schönen und Erhabenen spricht, dann produktiv durch den Beginn seiner literarischen Tätigkeit.

Bernhard Greiner versteht die Abwendung von der Wissenschaft und den Beginn der schriftstellerischen Arbeit bei Kleist als konsequentes Aufgreifen dieses Gedankens. Kleists Dramen und Erzählungen sind demnach literarische Experimente, die die Möglichkeit der Verknüpfung zwischen Sinnenwelt und Vernunftideen immer wieder neu in Frage stellen. Die Mittel der Kunst werden in diesem Verfahren also immer wieder auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Die Kunst wird selbst zum Gegenstand der Kunst und damit "Selbstreflexion der Wende zur Kunst". Vor diesem Hintergrund entwickelt Bernhard Greiner seine Interpretationen der Dramen und Erzählungen Kleists. Dabei werden besonders der Einfluss Kants und der experimentelle Charakter der Texte ins Blickfeld des Betrachters gerückt.

Eine einseitige Perspektive? - Keineswegs. Zwar können die vorgelegten Interpretationen keinen Anspruch auf Absolutheit erheben, aber sie eröffnen dem Leser einen spannenden Zugang zu Kleists Dramen und Erzählungen. Die Darstellung der Kunst als literarisches Experiment macht auch dem Leser Lust an der Interpretation, am experimentellen Umgang mit Texten.

Titelbild

Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum "Fall" der Kunst.
Francke Verlag, Tübingen und Basel 2000.
460 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3825221296

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch