Persönlich-vergänglich & historisch-absurd

die "pech & blende"-gedichte des lutz seiler: long ago und far away

Von Mischa GayringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mischa Gayring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

seit jahren gilt der 1963 in gera/thüringen geborene und heute in wilhelmshorst bei berlin lebende autor als geheimtipp: die rede ist von lutz seiler, ausgezeichnet mit dem kranichsteiner literaturpreis 1999 für seinen jüngst im suhrkamp verlag veröffentlichten gedichtband "pech & blende". in der begründung zur verleihung des preises an den autor heißt es: "seine gedichte sind erkundungen der kindheitslandschaften zwischen abraumhalden und paramilitärischen formierungen, sie überzeugen durch ihre intensität der sinnlichen ausdruckskraft und ihre vielschichtige bilderwelt. seine ganz eigene, suggestive stimme eröffnet einen glaubwürdigen poetischen raum, wie er in der gegenwartsdichtung selten zu finden ist."

in der tat, seilers gedichte rufen die dunklen seiten des daseins auf, graben tief im vergangenen und legen dessen schichten frei: "das war die säge / mehl geruch: // ein baum gelehnt / an seinen mann / der schaut hinaus / der schaut dich an wie durch / den schnitt seines gesichts / & aus // dem baum schält sich das kind. / so steht es dann / von draussen da / mit eigenblut & findelstimmen". in einer kargen, aufs äußerste verknappten sprache sucht der autor nach dem essentiellen, nach den spuren seines, unseres herkommens: "am ende stehen / wieder nur wir selbst / noch da, mit einem guten, großen / löffel in den händen".

die gedichte reichen zurück bis in die frühen kindertage inmitten jener "abraumhalde", jenes deutschlands, das er zu bewahren sucht: in jedem wort, in jeder zeile, in jenem hochgradig radioaktiven "pech & blende"-erz, das zu zeiten der ddr im osten thüringens von der wismut ag für die udssr abgebaut wurde. das sprachmaterial seinerseits ist getränkt vom klang russischer wörter und Namen wie gagarin, sachalin, potjomkin.

seiler richtet die blende seiner gedichte auf fast vergessene alltagsausschnitte, wobei das alltägliche eine berechtigung erhält, die nicht aus einer political correctness oder einem sich-anbiedern-müssen hervorgeht, sondern aus einem, dem dichter ganz eigenen zwang heraus, das spezifische gewicht der worte zu bestimmen. seilers verse sind keine abrechnung, keine klage. sie zeigen lediglich das, was war. sie nehmen die simultaneität von erleben und erinnern in einer so radikalen art und weise ernst, dass man hin und wieder zu hören glaubt, wie der geigerzähler ausschlägt, weil die von seiler zutage geförderten worte so heftig strahlen.

aber neben all dem long ago und far away, dem persönlich-vergänglichen und dem historisch absurden, das allen gedichten gemein ist, wird auch die frage: was aber gehört zu den grundausstattungen eines jeden dichters? thematisiert. dies beispielsweise in "gravitation", dem vorletzten gedicht des bandes, in dem es heißt: "jedes gedicht geht langsam / von oben nach unten, von unten / nach oben. es verwahrt / seine sture natur" und schließlich: "jedes gedicht / nagt am singenden knochen, es / ist auf kinderhöhe abgegriffen / und erzählt".

lutz seiler gelingt mit "pech & blende" das, was nur wenigen dichtern in deutschland beschieden ist: gedichte zu schreiben, die von genauer beobachtungsgabe und musikalität zeugen, die kritiker wie leser erkennen lassen: da ist einer, der die forderungen, die von der sprache selbst ausgehen, versteht. durs grünbein hat sie formuliert, lutz seiler hat sie umgesetzt: möge beiden diese fähigkeit niemals abhanden kommen.

Titelbild

Lutz Seiler: pech&blende. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
90 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3518121618

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