Das Original spricht mit

Gregor Laschen präsentiert in seiner Anthologie "Schönes Babylon" nicht nur die lyrische Vielschichtigkeit Europas

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir erfreuen uns immer größerer Nähe zu unseren europäischen Nachbarn, doch, mal Hand aufs Herz, wem ist beispielsweise isländische oder niederländische Dichtungstradition vertraut? Gregor Laschen, Herausgeber des Lyrikbandes "Schönes Babylon", hat seine ambitionierte Idee, Gedichte aus zwölf europäischen Sprachen zusammenzutragen, wunderbar umgesetzt und schickt nun den Leser auf eine poetische Reise quer durch Europa. Das Konzept wurde dem Projekt "Poesie der Nachbarn - Dichter übersetzen Dichter" entnommen, das seit 1989 jedes Jahr sechs Dichter aus dem europäischen Ausland und sechs deutsche Dichter im Künstlerhaus Edenkoben zur gemeinsamen Übersetzung ihrer Werke zusammenbringt.

Die Ergebnisse, die bisher in der "edition die horen" zu lesen waren, liegen nun in einer Auswahl vor. Laschen behielt dabei das Konzept der Dichter-Werkstatt bei: unterschiedliche Übersetzungen eines Gedichts werden dem Originaltext gegenübergestellt.

Siebenundvierzig Dichter aus Dänemark, Ungarn, Spanien, Island, den Niederlanden, Bulgarien, Italien, Frankreich, Norwegen und Irland sind hier manchmal nur mit einem einzigen (Klaus Rifbjerg, Dänemark), mitunter aber auch mit bis zu zwölf Gedichten (Jean Daive, Frankreich) vertreten und ermöglichen dem Leser so einen weit gefächerten Einblick in das, was Europa lyrisch zu bieten hat.

Die Gedichte erfahren dabei eine besonders um Authentizität bemühte Behandlung: Es geht nicht um bloße Übersetzung der Originalgedichte, vielmehr sind die Dichter als Übersetzer ihrer Kollegen (u.a. Wolfgang Hilbig, Brigitte Oleschinski, Oskar Pastior, Joachim Satorius und Ursula Krechel) um Nachdichtungen bemüht, die die lyrische Faszination erhalten. Mitunter liegt ein einzelnes Gedicht in vierfacher Übersetzung vor, wie beispielsweise "Il terzino anziano" von Franco Buffoni. Schon die Titelvarianten geben die Vielschichtigkeit der individuellen Lesarten preis: "Alter Verteidiger" (Übersetzung von Rolf Haufs), "Der alte Verteidiger" (Übersetzung von Ernst Wichner), "Verteidiger. Älter" (Übersetzung von Brigitte Struzyk) und "Alter Ausputzer" (Übersetzung von Gregor Laschen). Diese um die Lyrik sehr bemühte Handhabung der Gedichte ist eine Freude, enthüllt sie doch den Reichtum jedes einzelnen Gedichts erst recht, wenn auch der Leser die Originalsprache beherrscht. Dabei stößt er nicht nur auf kleinere und größere poetische Juwelen, sondern entwickelt auch ein Gespür für die Arbeit, die Übersetzer leisten. Denn diese treffen letztendlich Entscheidungen über die Lesart des Gedichtes, wie man es zum Beispiel an dem Gedicht "Island" von Linda Vilhjálmsdóttir beobachten kann, das in seiner Übersetzung ganz der Maxime des im Vorwort zitierten Übersetzers Felix Philipp Ingold entspricht: "Ebenso wie das Wort der Wirklichkeit, die es vertritt, entsprechen kann, vermag die Übersetzung dem Original zu entsprechen; sie spricht mit ihm."

Island Island

Meer das blaut Das Meer aus Blau

das Tief aus Nord Und das labile Tief

blauer Laut Der blaue Ton

Meerwort Das Meer

Stein der graut Der alte Stein

der Fels ein Ort Und der geheime Fels

grauer Laut Der graue Ton

Steinwort Der Stein

Islands Wortlaut Wortlaut Island

(Kito Lorenc, Übersetzung Gregor Laschen)

Die Sorgfalt, die Lyrik hier erfährt, spiegelt sich auch in der wunderschönen Präsentation des Bandes nieder, der in rostrotes Leinen gebunden und durch einen minimalistisch-derben Pappe-Schuber geschützt ist. So schön sich die Aufmachung der Anthologie im Regal macht, dürfte sie dennoch nur den Weg in wenige, auserwählte Hände finden, denn leider ist eine Anthologie zum Preis von fast fünfzig Mark nicht leicht unters Volk zu bringen.

Laschen hat eine Anthologie vorgelegt, die mehr erreicht als nur die literarische Vereinigung Europas; er gibt dem Leser die Möglichkeit, wunderbare Entdeckungen zu machen. "Schönes Babylon" ist gleichzeitig ein Plädoyer für Poesie und wer die Freude hatte, diesen Band zu lesen, wird nach mehr verlangen.

Titelbild

Gregor Laschen (Hg.): Schönes Babylon. Gedichte aus Europa in zwölf Sprachen.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
350 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770148444

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch