Labyrinthische Spurensuche

W. G. Sebalds Roman "Austerlitz"

Von Franz LoquaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Loquai

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer war Jacques Austerlitz? Als Dafydd Elias bei Zieheltern in Wales aufgewachsen, erfährt er mit 12 Jahren seinen wahren Namen. Klingt dieser nicht nach einem berühmten Bahnhof und dem Ort einer Schlacht, enthält er nicht ein Echo ungesühnter Verbrechen? Jacques verwendet alle Energie in einer "Selbstzensur des Denkens" auf das Verdrängen seiner Fragen über die eigene Herkunft, aus Angst vor der Antwort.

Er hortet ersatzweises Architekturwissen von Monumentalbauten wie Bahnhöfen, Arbeitersiedlungen, Gefängnissen, Festungen. Er plant ein Buch darüber und hat Hunderte von Notaten erstellt, bis er sieht, dass dies nur eine Vermeidungswissenschaft darstellt auf der Flucht vor der Wahrheit. In der Absage an das kompensatorische Forschen und in einer radikalen, dem Chandos-Brief Hofmannsthals ebenbürtigen Sprachskepsis vergräbt, ja beerdigt er sein ganzes Wissen im Garten. Will er aus dem nichtgelebten Leben heraustreten, muss er seiner Herkunft nachgehen.

Es trifft sich, dass er in der Antwerpener Centraal Station einem Seelenverwandten mit ähnlichem Sensorium begegnet: dem namenlosen Ich-Erzähler, Sebalds alter ego. Diesem schildert Jacques sein Leben - auf Französisch und Englisch, das der Erzähler in die Sebaldsche Diktion transponiert. Zum ersten Treffen kommt es 1967, eine Wiederbegegnung und die Fortsetzung der Vita erfolgt 30 Jahre später in London und Paris. In all den Jahren ist Austerlitz viel unterwegs: Auf der Prager Kleinseite trifft er sein Kinderfräulein Véra wieder und hört von seinen frankophilen Eltern (daher der Vorname Jacques) Agáta Austerlitz und Maximilian Aychenwald, die ihn als Fünfjährigen mit einem Kindertransport (daher seine "Bahnhofsmanie") nach England geschickt haben und deren Spuren sich verlieren in den Lagern Theresienstadt und Gurs.

Die mühevoll erinnerten und skrupulös ermittelten, im Grunde von der Vergangenheit selbst ausgesandten Details verdichten sich in der unausweichlichen Wahrheit über die Auslöschung einer jüdischen Familie und die vernichtete Existenz des Überlebenden.

Austerlitz trifft auf Erinnerungskünstler (Evan, Hilary, Véra, Lemoine), die als weitere Erzähler seinen Bericht ergänzen. Zur Orientierung des Lesers in Zeiten und Räumen sind die Wechsel à la Bernhard ("sagte Véra, so Austerlitz") markiert. Diese Verschachtelungen sind nicht etwa Ausdruck einer stilistischen Manieriertheit, sondern schaffen die notwendige erzählerische Distanz, indem sie die Vermitteltheit des Berichteten betonen.

Die Eingangssequenz im Nocturama des Antwerpener Zoos entfaltet die zentralen Motive. Wir lesen von nachtaktiven Tieren mit auffallend großen Augen und jenem "unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt". Auch für Austerlitz und den Erzähler geht es darum, Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Dem dienen mit Austerlitzens Leben bis ins unscheinbare Detail verknüpfte Leitmotive wie Bahnhofskuppeln und Wartesäle, Urnenhallen und Uhren, Festungen, Lager und Folterkammern (mit Reminiszenzen an Jean Améry und Claude Simon), Eichhörnchen (im Eichenwald) und Motten, Parks und Friedhöfe, Museen und Archive, Zwerg und Zwilling, der Buchstabe A, das Schweben und das Fliegen, der Blick in den Abgrund, Gesichter unter Wasser - bis hin zu der Taube mit dem gebrochenen Flügel, die zu Fuß nach Hause zurückkehrt und den Kreis zum 5-jährigen Jacques im Pagenkostüm und mit dem geschienten Arm schließt.

Seit Proust, dessen Madeleines heute eher als ironisches Zitat denn als Gedächtnisvehikel taugen, und Nabokov ("Erinnerung, sprich") hat kein Autor so subtil geschildert, wie Vergessen und Erinnern ablaufen: als zeitlupenhaftes Erforschen von Hundertstelsekunden, im Aufhalten der Zeit im verewigten Augenblick ("jetzt sehe ich"), im traumhaften Wiederfinden von Wörtern, ja einer ganzen Sprache, im Fluidum der Halluzination, im panischen Erstarren, im unverhofften Wiedersehen. So kommt es stets unverhofft zu den Treffen mit Austerlitz, und am Schluss stößt der Erzähler auf einen verschollenen Max Stern aus Paris, der am 18.5.1944 im Lager Kaunas ein Lebenszeichen hinterließ, ähnlich wie ein gewisser Meier Stern in den "Ausgewanderten". Das Datum ist der Geburtstag Sebalds. So endet das Buch in der Weite des Schweigens, im Niemandsland von Koinzidenz und Notwendigkeit.

Immer wieder im Verlauf der Lektüre kommt es auch für uns Leser zu dem Erkennungsschreck, wenn wir Toten erwachen. Das ist der Titel von Ibsens letztem Stück. Vielleicht hat Austerlitzens Mutter, die Schauspielerin war, bei einer Aufführung mitgespielt, wie ein Photo nahelegt, das Austerlitz von Véra erhält. Ein anderes Photo aus Austerlitzens Kinderbibel zeigt ein Lager in der Wüste Sinai. Hier fühle er sich, so Jacques, an seinem "richtigen Ort". Das ist einer jener Orakelsprüche, die sich durch das Buch ziehen und zeigen, daß die Vergangenheit nie vergangen ist.

Hat man Sebalds Erzählgespinst mit dem seidenen Faden aus Koinzidenzen, Leitmotiven, thematischen Mustern und Orakelsprüchen erkannt und sich eine Ahnung von jenem, den Autor und seine Seelenverwandten auszeichnenden siebten Sinn bewahrt, dann könnte man skeptisch fragen, ob das Strickmuster nicht zur Masche wird. Es bedürfte nur da und dort eines Wörtchens, einer Wendung zuviel, schon hätten wir den parodierten Sebald-Satz und alles stürzte zusammen. In der Tat scheint es nur Sebald selber gegeben, diese stilistische Gratwanderung wie aus dem Stegreif, wie schwerelos zu bestehen. So liest sich auch das Buch: leicht und schwerelos, aber nicht unbeschwert, sondern voller Wehmut. Der Leser wird Zeile für Zeile mitgetragen von diesen ruhigen, langen und langsamen Sätzen, die ein Gefühl der Levitation vermitteln und zugleich die Gewissheit, dass unter uns allen der Abgrund lauert, in den uns die Schwerkraft des Gemüts unweigerlich zieht. Dem Grauen kommt nur diese Sebaldsche Sprache bei, die nicht versucht, es durch Schönheit zu bannen, sondern die überhaupt die einzige Möglichkeit bietet, es halbwegs zu ertragen.

Gemeinhin gilt als ausgemacht, dass man über den Holocaust nur dokumentarisch, niemals in Form von Fiktionen schreiben könne. Dieser Konsens hält vor Sebalds Erzählmodell nicht mehr stand. Denn ähnlich wie Sebald die Grenzen zwischen den Zeiten und Räumen, den Toten und den Lebenden überwindet, so gelingt es ihm auch, die infolge der Ungeheuerlichkeit der Greuel irreal erscheinende Welt als Realität zu zeigen und umgekehrt die vertraute Wirklichkeit so in Fiktion zu verwandeln, dass auch hier die Übergänge fließend werden. Der einzige nichtjüdische deutsche Schriftsteller, dessen Erzählen so virtuos und legitim zwischen Fiktion und Authentizität oszilliert, ist W. G. "Max" Sebald.

Man muss Sebald höchsten Respekt zollen, ja bewundern dafür, dass er die labyrinthische Spurensuche mit einer Beharrlichkeit und Sensibilität aufgenommen hat, die von tiefem Taktgefühl zeugen. Er begibt sich mitten hinein in die Herzkammern des Leidens und fühlt in einem Maße mit, dass er selbst umzukommen droht dabei. Geteiltes Leid ist doppeltes Leid. So erfährt Austerlitz von Véra, dass seine Mutter kurz vor der Deportation bedauert habe, nicht mehr in die geliebten Gärten und Parks an den Moldauufern gehen zu können; nirgends, wo es grün sei, dürfe sie noch hin. Beim Abschied äußerte sie eine letzte Bitte an Véra: sie möge in diesen Parks für sie spazierengehen. Véra und Jacques teilen sich das Leid in stundenlangem Schweigen. Ist das nicht eines jener bösen deutschen Märchen, die einen schweren, schwindligen Kopf machen und bei denen einem das Herz brechen möchte vor Weh, das nie vergeht?

Dann und wann gibt es aber einen Hauch von Glück oder ein Quäntchen Frieden. Orte dieser raren Augenblicke sind die Hütte des Eremiten, das Häuschen des Schleusenwärters oder das "Ferienasyl" Andromeda an der walisischen Küste.

Sebald zeigt sich auf der epischen Langstrecke als großer Erzähler, denn mit "Austerlitz" hat er sich selbst übertroffen und ein Wunderwerk an unvergesslicher Prosa geschaffen. Wenn Austerlitz gegen Ende meint, von ihm werde nichts bleiben als ein Stapel Photographien, so hat ihn in diesem Punkt sein sonst so untrügliches Gespür zum Glück doch getäuscht. Denn Sebald ist es gelungen, Austerlitz hinüberzuerzählen und zu retten in ein bleibendes Stück Literatur, das der Vergänglichkeit trotzt.

Titelbild

Winfried G. Sebald: Austerlitz.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
424 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3446200320

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