Vom Mythos zum Topos

Gerrit-Jan Berendse betreut "Grenz-Fallstudien" zum Prenzlauer Berg

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schlagwort Prenzlauer Berg - sowie die sich dahinter verbergenden Autoren und ihre Texte - ist schneller zu einem Politikum geworden, als es in die Literaturgeschichten einziehen konnte. Zuerst einmal als Mythos einer subversiven Kultur- und Literaturszene, die den Beweis antrat, dass dissidentes Verhalten auch unter den repressiven Bedingungen der DDR möglich war. Der Prenzlauer Berg diente daher so lange als Gegenmodell zu den in der unmittelbaren Zeit nach der Wende von westlichen Kritikern heftig angegriffenen so genannten ,Staatsschriftstellern' wie Christa Wolf oder Hermann Kant, bis Wolf Biermann in spektakulärer Weise die Stasimitarbeit von Sascha Anderson aufdeckte und den Prenzlberg-Organisator in seiner gewohnt offenen Art als "Sascha Arschloch" bezeichnete. Das Bild der staatsfernen Subkultur drehte sich um 180 Grad und ein zweiter Mythos entstand, der Mythos eines durch den Geheimdienst kontrollierten und gehegten Abweichlerghettos.

Dabei wurde der Prenzlauer Berg immer als eine einheitliche Bewegung aufgefasst, was er nicht ist. Sieht man ihn als eine Schriftstellerbewegung oder Schriftstellergruppe an, so zerfällt er notwendigerweise in verschiedene aufeinander folgende oder untereinander konkurrierende Untergruppen und damit letztendlich in sehr unterschiedliche Individuen. Gemeinsame Manifeste, wie sie bei früheren literarischen Gruppen so beliebt waren, wird man vergeblich suchen und die heute modischen und Einheit stiftenden virtuellen Diskussionsrunden im Netz existierten damals noch nicht.

In seiner Beschäftigung mit diesem späten Abschnitt der DDR-Literatur unter dem Titel "Grenz-Fallstudien" verzichtet der Germanist Gerrit-Jan Berendse deshalb auf die Form einer großen wissenschaftlichen Erzählung, die eine Einheit suggerieren würde, wo keine ist. Stattdessen liefert er eine Reihe lose verknüpfter Essays, in deren Mittelpunkt das eigentlich Verbindende der Literatur vom Prenzlauer Berg stehen soll, nämlich ein doppelter Topos: zum einen der Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg als realer Ort und Sammelbecken, an dem die verschiedenen Künstler in Kommunikation miteinander treten, und zum anderen der urbane Topos des modernen großstädtischen Lebens. Es bleibt allerdings zu fragen, inwieweit Berendse diesem selbst vorgegebenen thematischen Fokus gerecht wird.

In sieben Essays nähert er sich seinem Thema, wobei die inhaltliche Tendenz vom Allgemeinen ins Besondere geht. Zuerst beleuchtet er in drei überblickenden Texten die "alternativen Lebens- und Schreibweisen in der DDR zwischen 1960 und 1990", den Einfluss der amerikanischen Beatliteratur und den Fokus des Feuilletons auf die Ostberliner Literatur. Vor allem die Affinität vieler Schriftsteller vom Prenzlauer Berg für die Texte, Ideen und Autoren der amerikanischen Gegenkultur der 50er und 60er Jahre arbeitet er dabei heraus, wobei er nicht davon ablässt, vor einer Reduktion der Prenzlauer Berg-Literatur auf eine direkte Beat-Nachfolge zu warnen.

Danach widmet er vier einzelnen Persönlichkeiten jeweils ein Portrait, namentlich Adolf Endler, Frank-Wolf Matthies, Elke Erb und Gabriele Stötzer-Kachold. An dieser Stelle spätestens hätte man sich eine etwas propädeutischere Herangehensweise gewünscht. Wie Berendse selbst immer wieder darlegt, bezieht sich ein Gutteil des subversiven Potentials dieser Literatur aus ihrer Veröffentlichungsgeschichte. Die Zahl der in Kleinstauflagen erschienenen literarischen Zeitschriften dieser Epoche ist Legion, oft wurden sie in Handarbeit hergestellt und unter Freunden weitergereicht, Bücher erschienen in Selbstverlagen oder zirkulierten ebenfalls als Manuskripte. Es ist sicherlich richtig, dass es eine unentschuldbare Beschneidung der literarischen Vielfalt wäre, wollte man sich nur auf diejenigen Texte konzentrieren, die nach der Öffnung der DDR von professionellen Verlagen nachgedruckt und damit lieferbar gemacht wurden. Doch gerade wenn man rare und nur Wenigen zugängliche Texte mit in die Analyse einbezieht, wären einführende Passagen über das Textkorpus der jeweiligen Autoren sehr hilfreich. So sieht sich der Leser, der nicht zu den Spezialisten für DDR-Literatur gehört, vor einem Puzzlespiel, das dem Informationsgewinn nicht unbedingt zuträglich ist.

Damit bleiben vor allem die essayistischen Beobachtungen von Gerrit-Jan Berendse übrig, und die bieten leider in ihrer Gesamtheit ein unbefriedigendes Ergebnis. Zu disparat bleiben die Motive, die doch eine Gemeinsamkeit knüpfen sollten, weder stellt sich ein Überblick ein, noch wird über einen einzelnen Text oder Autor ein tiefer gehendes Bild deutlich. In der meist polemisch geführten Diskussion über die Literatur, die die Stagnation und den Zerfall der DDR begleitete, sind die Essays von Gerrit-Jan Berendse mit Sicherheit ein kenntnisreicher und erfreulich objektiver Beitrag; den interessierten Laien lassen sie mit mehr Fragen als Antworten zurück.

Titelbild

Gerrit-Jan Berendse: Grenz-Fallstudien. Essays zum Topos Prenzlauer Berg in der DDR-Literatur.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 1999.
152 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3503049274

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