Von lebenden Toten

Leonhard Schumachers akribische Untersuchung über die "Sklaverei in der Antike"

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

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Alkibiades hatte die Peloponnesische Flotte geschlagen und kehrte im Triumph nach Athen zurück. Zwar war der Krieg gegen Sparta noch nicht gewonnen, doch schien die attische Metropole ihre Macht und ihre Überlegenheit im Jahre 407 v. Chr. erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt zu haben. Mehr noch als ihre Siege zur See sollten aber gewaltige Baudenkmäler der Nachwelt einen Eindruck ihrer Pracht vermitteln. Ein solches, das Erechtheion auf der Akropolis, sah noch im selben Jahr seiner Fertigstellung entgegen.

Epigenes zählt zu jenen, die Arbeiten an dem wichtigen Kultbau verrichten. Epigenes ist Sklave. Von den Freien oder den Bürgern werden seinesgleichen "Somata" genannt, was eigentlich einen unbeseelten Leichnam meint, für ihn als "lebenden Toten" mangels eines sozialen Lebens aber recht passend scheint. Vor einem Jahr hatte sein Herr - man sollte ihn treffender als seinen "Besitzer" bezeichnen - ihn auf dem Sklavenmarkt der Insel Delos gekauft, dem seinerzeit größten Umschlagplatz für menschliche "Ware" in der mediterranen Welt. Als "argyronetos" oder Kaufsklave wird Epigenes argwöhnisch bei seiner Arbeit beobachtet, im Gegensatz zu den "oikogeneis", den hausgeborenen Sklaven seines Besitzers Simias, denn seine Loyalität muss Epigenes erst noch unter Beweis stellen. Simias wird gespannt sein, ob sich die Investition von 220 Drachmen gelohnt hat. Immerhin hätte er für diese Summe auch ein kleines Landhaus mit Garten erwerben können.

Epigenes war deshalb relativ teuer, weil er - wie sein Besitzer auch - von Beruf Steinmetz ist. Hier am Erechtheion arbeitet er mit Sklaven anderer athenischer Handwerker oder auch Freigeborenen Seite an Seite. Epigenes kann nicht wissen, dass in der römischen Welt einige Jahrhunderte später ein gemeinsamer Arbeitseinsatz von "Servi" und Freien nicht mehr alltäglich sein wird. Nein, eigentlich kann er nicht klagen. Immerhin besteht noch Hoffnung für ihn: Simias hatte erst kürzlich einen Sklaven wohlverdient in die Freiheit entlassen, einzig mit der vertraglich festgelegten Verpflichtung, in Notfällen wie akutem Personalmangel weiterhin zur Verfügung zu stehen. Epigenes' Besitzer zeigt sich immer sehr besorgt um sein Eigentum. Nur bei schwersten Vergehen ist mit einer drastischen Strafe zu rechnen, denn die Verstümmelung eines Sklaven oder gar dessen Tod bedeutet einen gewaltigen wirtschaftlichen Schaden. Um ihre Arbeitskraft zu erhalten, werden Simias' Sklaven gut versorgt und schlafen in kleinen Kammern im Hause ihres Besitzers, wobei es ihnen weit besser ergeht als manch anderen Sklaven oder auch einigen ihrer freien Arbeitskollegen: sie werden die Nacht in ihren feuchten Lehmhütten am Stadtrand verbringen.

Die unterschiedliche Haltbarkeit von Lehmhütten auf der einen, Tempeln aus Marmor und Stein auf der anderen Seite illustriert das methodische Problem, das den Mainzer Althistoriker Leonhard Schumacher umtreibt. Der letztere, gut konservierte Bautyp prägt die Antikerezeption in hohem Maße: Die Zeugnisse griechischer und römischer Hochkultur bestimmen den positiven Eindruck der gesamten Epoche - Lehmhütten allerdings sind archäologisch ebenso schwer fassbar wie die Holztäfelchen, die häufig anstelle von Grabsteinen die letzte Ruhestätte Angehöriger der Unterschicht und des Sklavenstandes kennzeichneten. Daraus leitet Schumacher seine kardinale Problemstellung ab: Können gesellschaftliche Institutionen oder soziale Tatsachen anhand einer archäologischen Überlieferung erfasst und dargestellt werden?

Dass für das Erechtheion die Bauabrechnungen mit detaillierten Angaben über die Identität der Arbeiter erhalten sind, ist ein Glücksfall. Ansonsten gilt es, jene Quellen neu zu sichten, die auch sonst die sicherste Auskunft über den Alltag in der Antike geben - Grabinschriften, bildliche Darstellungen alltäglicher Tätigkeiten auf Tongefäßen etwa oder Zeugnisse der literarischen Überlieferung. Die Aufmerksamkeit des Autors gilt dabei in erster Linie den archäologischen Zeugnissen. Anhand einer Auswahl von bebilderten Grabsteinen wird zunächst ausgelotet, ob überhaupt ikonographische Merkmale die Darstellung eines Unfreien charakterisieren, denn bildliche Darstellungen harter Arbeit allein können wegen des hohen Anteils von freien Arbeitern in die Irre führen. Zudem existierten verschiedene Formen der Abhängigkeit oder der Unfreiheit außerhalb der Sklaverei. Bauern, die aus wirtschaftlicher Not in die Schuldknechtschaft gerieten, waren ebenso wenig Sklaven im engeren Sinne wie Kriegsgefangene oder die spartanischen Heloten. Ihnen verblieb zumindest ihre Persönlichkeit mitsamt der zugehörigen Rechte - so gering sie auch gewesen sein mochten.

Die Leistung von schwerer körperlicher Arbeit oder die Kleidung der Personen gewähren also keine sichere Identifikation; erst in Kombination mit einer Inschrift oder durch das Indiz einer perspektivisch im Vergleich zu anderen dargestellten Personen viel zu geringen Körpergröße lässt sich ein Verstorbener als unfrei identifizieren.

Schumachers empirische Erhebung lässt zumindest einige Tendenzen erkennen: Die kaiserlichen Sklaven, die vor oder nach ihrer Freilassung zu hohem Reichtum und Einfluss gelangen konnten, existierten gewiss. Pertinax, Sohn eines Freigelassenen, gelangte 193 n. Chr. gar auf den Kaiserthron. Das Gros der Unfreien aber übte härteste körperliche Arbeit oder verschiedene 'leichtere' Tätigkeiten in Haushalt und Unterhaltung aus - Prostitution mit inbegriffen. Unterschiede zwischen der griechischen und der römischen Praxis lassen sich deutlich erkennen. War in Griechenland den Unfreien die Teilnahme an Theaterspielen ganz untersagt, so wurden in Rom gerade Unfreie bevorzugt als Schauspieler oder Musikanten eingesetzt. Einige liebgewonnene Klischees halten der Prüfung an archäologischen Zeugnissen nicht stand. Den "Galeerensklaven", spätestens seit der "Ben Hur"-Verfilmung von 1959 fester Bestandteil des populären Antikebildes, gab es nur in Ausnahmesituationen. In der Regel saßen freie Ruderer auf den Bänken.

Rekrutiert wurden die Mengen an benötigten Sklaven durch Massenversklavungen infolge kriegerischer Auseinandersetzungen oder schlichtweg durch Menschenraub. Diesen "Quellen" - von Schumacher als "exogen" qualifiziert - stehen Fälle von "endogener" Versklavung in weit geringerem Ausmaß gegenüber. Verurteilte oder verschuldete Freie wurden nur zögerlich in die Sklaverei überführt. Die Aberkennung der Rechte auf ein eigenes Leben erzeugte wohl schon bei Zeitgenossen gewisse Schuldgefühle, wie sich an der Zurückhaltung der Griechen, andere Griechen zu versklaven, verdeutlichen lässt. Bei deren Kompensation war eine Verfremdung - "alientation" - der Entpersonalisierten hilfreich, doch erstaunlicherweise finden sich keine Anhaltspunkte für eine ethnisch oder rassisch motivierte Ausgrenzung, wie sie etwa die Situation der schwarzen Sklaven in den Südstaaten kennzeichnen sollte. Deren gesellschaftliche Lage ähnelt auch - bei aller Konjunktur, die der Begriff der "Sklaverei" bis heute hat - am ehesten den antiken Verhältnissen. Eine weitgehende institutionelle Ähnlichkeit besteht auch mit den verschiedenen Formen von "Lagern", einer leider noch sehr aktuellen Form organisierten Persönlichkeitsentzuges. Epochenübergreifende Vergleiche stehen jedoch nicht im Zentrum der Untersuchung. Vielmehr kann sie einen direkten Einblick in die Quellenkunde zur althistorischen Wissenschaft gewähren. Schumacher benennt zwar die schriftliche Überlieferung als ein tragendes Element der Rekonstruktion antiker Sozialstrukturen, versucht aber, sich wo möglich auf archäologische Befunde zu beschränken und verzichtet zugunsten einer empirischen Strenge weitestgehend auf die Illustration seiner Ergebnisse durch einen Vergleich mit anderen Formen der Überlieferung.

Titelbild

Leonhard Schumacher: Sklaverei in der Antike. Alltag und Schicksal der Unfreien.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
368 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3406465749

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