Störglieder in Organismen

Claudia Josts Analysen zur "Logik des Parasitären" in Literatur, Medizin und Schrifttheorie

Von Nicolas PethesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolas Pethes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Qualität germanistischer Dissertationen liegt eher selten darin begründet, dass sie einen Beitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten leisten. Daran hat man sich gewöhnt, und doch steht der Befund in einem eigentümlichen Kontrast zu denjenigen gegenwärtigen Strömungen, die auf der einen Seite die kulturwissenschaftliche und anthropologische Ausweitung der krisengeschüttelten Philologien fordern, auf der anderen Seite angesichts der gentechnischen Forschung die 'Biologisierung' der Feuilletons betreiben. Und in der Tat: Wie lange sollen sich die 'Humanwissenschaften' tatsächlich noch aus einer Debatte heraushalten, die um nichts weniger kreist, als um die Definition des Menschen selbst?

Claudia Jost zeigt in ihrer Dissertation, dass Literatur und Geisteswissenschaften dieser Herausforderung nicht ausweichen können, weil sie schon längst ihr ureigenster Gegenstand ist: Ihre Untersuchung gilt der "Logik des Parasitären", jenem Störglied also, das an dem Leben eines Organismus partizipiert, das dieser für sich selbst in Anspruch nimmt. Diese Logik identifiziert Jost in den vier Teilen ihrer Studie gleichermaßen als Organisationselement poststrukturalistischer Theorien, biopolitisches Modell, juristische Argumentationsfigur und literarisches Motiv und auf diesen interdisziplinären Pfaden verfolgt sie den Umschlag der Semantik des Parasiten vom 'Gast' zum 'Feind'. Es ist der Umschlag von ideologiekritischer Differenzphilosophie in ihr totalitäres Gegenteil: Denn so sehr der Parasit auf der einen Seite die sinnhafte Geschlossenheit von Systemen aufstört und ihrer Selbstherrlichkeit den Spiegel des 'Anderen' vor Augen führt, so sehr kann er im Namen derselben Alterität zum Gegenstand von Verstoßung oder Missbrauch werden. Auf diese Weise werden im Gewande einer Sozialethik die Rettungsinteressen vieler gesunder Menschen gegenüber dem Lebenserhaltungsinteresse des Einzelnen, Kranken ins Spiel gebracht, und das absolut Böse kann gerade im Namen des Guten stattfinden: Etwa, wenn der Körper des Menschen zur transplantationsmedizinisch verwertbaren 'Sache' erklärt wird, so dass seine Zerstörung um so eher 'genossen' werden kann, als die Tötung des Körpers als Sache rechtlich gar keine Tötung mehr darstellt.

Das Parasitäre scheint damit Schlüssel zu jenen Dilemmata zu sein, in denen sich die gegenwärtige Debatte um Stammzellenforschung, Klone und Transplantationsmedizin wiederfindet: Jost kann in ihrer durchaus cum ira et studio vorgetragenen Untersuchung anhand einer entwaffnenden Vielzahl von Quellentexten zeigen, wie am Ort der Sprache - im bioethischen Diskurs von Medizin und Rechtsprechung - etwas zur bloßen Natur erklärt wird, um durch diesen performativen Setzungsakt vollständig - und das heißt: ohne Rechtskontrolle - verfügbar zu werden: "Während das Gesetz Imaginäres und Vernünftiges ebenso gegeneinander ausspielt wie Leben und Tod, entwickelt es seine Kriterien dafür, was schutzwürdig sei und was nicht, an einer Fiktion, die explizit nicht der Wirklichkeit entspricht. Das fiktive Konstrukt einer Wurzel aus Eins, die vom Körper isolierbare Person wird zum Sein und einzig gültigem Selbstzweck erhöht."

Ebenso, wie der organisch noch funktionstüchtige Körper des Hirntoten an einem Leben parasitiert, das ihm nicht mehr zugestanden wird, ist auch der Fötus im Mutterleib Parasit: Jost zeigt, wie im Falle von Föten mit unterentwickelten Hirnstrukturen "der Name der Krankheit das Todesurteil ist": Anenzephalie. Insofern es sich ohnehin um eine "'nur scheinbar bestehende Schwangerschaft'" handele, wird der bewusstseinlose Fötus zum "'non-existing human biological life'" erklärt und damit zum reinen Gebrauchswert ohne ethische Rücksichten, da diese Ethik auf genau das gründet, was dem Anenzephalen abgesprochen wird: über eine bewusste Persönlichkeit zu verfügen. Die "Text-Kreationen am Ort des Lebendigen" erklären Föten, anenzephale Säuglinge und Hirntote zu "Wesen, die nicht leben, weil sie angeblich nichts als das Leben selbst genießen" und verfrachten dieses "Verbrechen" zugleich und qua eigener Setzung in den rechtsfreien Raum.

Die neue "Eugenik", die sich in der Produktion von "Lifeware" verwirklicht, koppelt die Suche nach einem reinen Sinn erneut mit dem Genießen des Ausschlusses des Anderen: Die Naturalisierung der Ausgangsentscheidungen erlaubt es, gerade im Namen des Humanismus Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Im Nationalsozialismus war es auf diese Weise 'der Jude', der zum Parasiten am 'Volkskörper' erklärt werden konnte; die gegenwärtige Bioethik ist folglich die moderne Version eines ebensolchen Rassismus im Namen der 'Sozialhygiene', wie Jost in Anschluss an die Rassismus-Theorien von Etienne Balibar bemerkt. Ein Verbrechen, das sich selbst als Verbrechen unkenntlich macht, ist die denkbar obszönste Geste einer Biomacht im Namen der Bioethik. Sie ist obszön im wahrsten, batailleschen, Sinne, weil sie ohne 'Szene' im öffentlichen Diskurs bleibt. Und auch die Bühne, die die jüngste Diskussion um Stammzellen in den Feuilletons gefunden hat, ändert nichts an dieser 'Unerhörtheit' der Tötung, solange sie die Perfidität, den Rechtsbruch selbst aus der Verfügung des Gesetzes zu ziehen, nicht reflektiert.

An dieser Stelle wünscht man sich eine Debatte von Foucaults Konzept der Biopolitik, insofern hier das Interesse der Macht an der Produktion von Leben (anstelle seiner Repression) zu entfalten und - angesichts des Nachweises einer 'unsichtbaren' Tötung - auch zu relativieren wäre. Es ist insgesamt bedauerlich, dass in Josts Buch solche, für die bevorstehenden Debatten so wichtigen, Aspekte hinter allgemeine theoriegeschichtliche Rückbindung der Probleme zurücktreten. Im ersten Teil des Buches erfährt man zunächst ausführlich, inwiefern das Parasitäre ein Grundelement der Sprechakttheorie, Dekonstruktion und Psychoanalyse ist, der letzte Teil führt vor, wie sehr es auch das Modell einer literarischen Ästhetik der Form prägt. Die Brisanz der Problemstellung leidet aber angesichts der ausführlichen Referate zu Austin, Derrida, Freud, Lacan, Zizek, Lévinas u.a. ebenso sehr, wie unter dem nochmaligen Aufgreifen kanonisierter poststrukturalistischer Gewährsleute wie Artaud, Kafka oder Schreber. Obgleich Jost hier detailliert vorführt, auf wie verschiedene Weise die parasitäre Logik die Diskurse bestimmt, fragt man sich doch, ob der Klartext, der aus den gegenwärtigen Stellungnahmen zur Bioethik spricht, der Ergänzung durch isolierte binnentheoretische Diskussionen überhaupt bedarf. Dass Antonin Artauds Theater der Grausamkeit ein Töten inszeniert, das nicht tötet, ist auf einer strukturellen Basis mit dem biomedizinischen Bestreben verwandt. Artauds Theater dient aber dem unmittelbaren Ausdruck des Lebens, das Dispositiv der Biomedizin hingegen seiner problematischen Produktion auf Kosten von 'anderem' Leben, und Ziele und Folgen der Verdinglichung eines Hirntoten sind damit ganz andere als die der Eroberung von Mexiko.

Die fragliche Verbindung zwischen literarischen Texten, medizinischen Diskursen und Schrifttheorien ist bei Jost aber auf einer strukturellen Eben angesiedelt, der Performanz: Der tödliche Ausschluss ist "Effekt einer Sprachtechnik", der Signifikant des Menschenrechts "kreationistisch [...], d.h. parasitär bis zur Zerstörung". Diesen Zug einer schöpferischen Destruktion teilt die Biomedizin mit der literarischen Ästhetik, insofern diese das 'Literarische' vom Stoff ebenso abkoppelt, wie die Biomedizin das Leben vom Körper: "In ganzer Konsequenz müsste das bedeuten, daß die Dinge, die man der Wissenschaft anlasten kann, zugleich auch das Ästhetische selbst treffen." Was aber nicht heißt, dass die Literatur neben der Wissenschaft auf der Anklagebank Platz zu nehmen hat: Vielmehr sieht Jost gerade aufgrund ihrer Nähe zur biopolitischen Logik das Vermögen der Literatur gegeben, zu einem Dokument der Aufrichtigkeit, des Einspruchs und der Kritik - dieses Mal im Sinne Foucaults - zu werden: Literatur vermag sich als Fiktion der politischen Lüge so sehr anzunähern, dass ihre Narration wahre Zeugenschaft ablegt: Antigonä, die Recht für den juristisch inexistenten Körper ihres Bruders einfordert, Kafkas Hungerkünstler, dessen radikaler Widerstand durch "Nichtung" in einen neuen "Gesetzeswahn" umschlägt und Schrebers Phantasma eines modellierbaren, immer fortpflanzungsfähigen Körpers lassen literarische Überlieferung als "Über-Lebendes" erscheinen, als jene "Wunde" zwischen Leben und Nichtleben, die etwa in Kafkas Landarzt zum Ort des Parasiten wie zum Erinnerungszeichen seiner Logik wird.

Literatur wird auf diese Weise zur Gelenkstelle zwischen einer differenzphilosophischen Theorie des Parasitäten und den rassistischen Wissenschaften vom Leben. Es drohen aber auch biologisierende Kurzschlüsse, etwa wenn Derrida sein parasitäres Universalkonzept der différance zum "Wesen des Lebens" selbst erklärt. Und angesichts der wiederkehrenden Logik, die auf immer neue Weise das Argumentationsmuster des parasitären Umschlags von Ethik in Mord reproduziert, bleiben die Konturen der spezifischen historischen Dispositive, innerhalb derer die Diskurse entstehen, blass: Die "merkwürdige[n] Parallelen" zwischen literarischen Werken von Sophokles bis Bruno Schulz münden letztlich in ein weitgehend ahistorisches Bild der Literatur, die als Komplizin der Biopolitik den informiertesten Anwalt ihrer Opfer abgibt.

Durch diese Kulturalisierung des Phänomens scheint der politischen Praxis genau die Hintertür offen zu bleiben, die die Arbeit so präzise umreißt. Man wird fragen müssen: Zielt Antigonäs Brechen des gesetzlosen Gesetzes tatsächlich gegen die gleiche Biomacht, die heute so bedrohlich scheint? Sind gegenwärtige bioethische Probleme wirklich nur literarisch angemessen zu repräsentieren oder gar anzugehen? Beides sicher nicht; dass sich jedoch die fatale Logik und die unwiderruflichen Konsequenzen der Biomedizin in der wechselseitigen Bespiegelung rechtsmedizinischer und literarischer Diskurse deutlich zu lesen geben, zeigt Josts - in der Sache so sehr, in der Ausführung zu wenig - pointierte Studie: "Demnach wäre es gerade die 'Sache der Poesie', jenen ungeheurem Drang zur Berührung des 'Unantastbaren' in eine Form zu verwandeln, die es erlaubt, den Schrecken der Überschreitung überhaupt zu zeigen bzw. ihn zu genießen und eben dadurch das 'Unberührbahre' als blendendes und doch unersetzbares Moment des Schönen anzuerkennen."

Titelbild

Claudia Jost: Die Logik des Parasitären. Literarische Texte, Medizinische Diskurse, Schrifttheorien.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
400 Seiten, 30,70 EUR.
ISBN-10: 3476452336

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