Aufstieg und Fall

Martin Walsers Roman "Der Lebenslauf der Liebe"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Walsers Protagonisten Halm, Zürn, Dorn und Kern-Krenn (um nur einige zu nennen) mussten in der Vergangenheit schon reichlich Ungemach ertragen. Sie litten unter zerstörten Beziehungen, an unerfüllten Lebensträumen, am eigenen Phlegma und der Monotonie ihres Alltags. Doch das reale Leid dieser in Selbstmitleid erschöpften, in Walsers Sinne repräsentativen Vertreter des wohlsituierten Mittelstandes hielt sich in überschaubaren Grenzen. Damit ist jetzt Schluss! Schluss mit Mittelstand, Schluss mit wohldosierten Schicksalsschlägen. In seinem neuen Roman "Der Lebenslauf der Liebe" hat Martin Walser bei der Darstellung der Familie Gern dramatische Register gezogen und gängige Klischees bemüht, um eine Handlung zu inszenieren, die sich (fernsehserienreif) unter dem Leitmotiv "Aufstieg und Fall" zusammen fassen lässt.

Der Jurist Edmund Gern hat durch dubiose Investmentgeschäfte stattlichen Reichtum erlangt: ein Haus mit 390 Quadratmetern Wohnfläche in Düsseldorf, eine Wochenendresidenz, mehrere Eigentumswohnungen, einen noblen Bentley, eine ansehnliche und wertvolle Gemäldesammlung und (beinahe selbstverständlich in diesen Kreisen) ein Porsche-Cabrio sowie drei Haushaltshilfen für Ehefrau Susi.

Der unermessliche Reichtum kittet die Familie zusammen, denn Edmund und Susi gewähren sich ganz offen diverse Liebschaften. Edmund zumeist auf seinen Auslandsreisen, und Susi findet per Zeitungsannoncen ihre Lover. Den Alltag spulen sie routiniert ab, substanziell geredet wird miteinander nur über die Probleme, die sie mit ihren Kindern haben. Tochter Conny ist durch einen Geburtsfehler geistig zurückgeblieben ("sie ist 28 und wackelt schon 3 Jahre nicht mehr mit dem Kopf, und seit 7 Jahren kein Pipi mehr im Bett"), und Sohn Andreas, der als Jugendlicher durch Diebstähle auffiel, ist unglücklich verheiratet mit der Jugoslawin Ksenija und lebt von einer monatlichen Zuwendung seiner Mutter in Höhe von 5.000 Mark. Eine ähnlich zugespitzte Form der Eltern-Kinder-Konstellation fand sich schon in Walsers Roman "Ohne einander" - die Kinder als lebensuntüchtige Anhängsel der Eltern. Dabei haben die Eltern reichlich eigene Probleme, die auch der materielle Wohlstand nicht kompensieren kann. Sie sind einfach zu verschieden, um miteinander auszukommen. Edmund ist der gebildete Weltmann, künstlerisch interessiert und belesen, geschäftlich erfolgreich, ein bisschen versnobt (es müssen handgenähte Schuhe für einige Tausender sein) und zur Arroganz neigend. Darunter muss Ehefrau Susi, gelernte Sprechstundenhilfe, leiden. Es sind nicht nur Edmunds Seitensprünge, sondern auch seine wiederholten verbalen Spitzen ("Du stammst aus kleinbürgerlichen Kreisen"), die Susi schmerzlich treffen. "Daß sie so gut wie keine Allgemeinbildung hatte, störte sie von Jahr zu Jahr mehr", lässt Walser die weibliche Hauptfigur, die sich für "nicht intelligent" hält, beinahe demütig klagen.

Sätze, die Susis Minderwertigkeitskomplex eindrucksvoll dokumentieren. Doch Martin Walser hält es mit der Naivität und Kleingeistigkeit nicht durch und knackt damit die Stringenz. Es passt überhaupt nicht zum Profil der Susi Gern, dass sie sich über historische Bauwerke in Rom verbreitet und überdies bei einem Rendezvous die Rolle einer Wächterin über die Reinheit der deutschen Sprache einnimmt.

Einen ähnlichen Wächter hätte man Martin Walser gewünscht, der in seinem überbordenden Erzähleifer ziemlich ungehemmt den Duktus der umgangssprachlichen Dialoge auch in die narrativen Passagen einfließen lässt. Das führt häufig zu sinnentleerten Verkürzungen, etwa wenn es heißt: "Susi rannte in die Küche und drückte ihre Musik, [...] verließ das Zimmer, dass Xandra ungeniert sprechen konnte. Als sie ihm Jahre später wieder begegnete, wollte er gleich wieder raspeln." Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass Martin Walser geradezu krampfhaft nach einer originellen Sprache sucht. Wenn ein Autor vom Bodensee versucht, einer Figur (Tochter Conny) den rheinischen Dialekt in den Mund zu legen, bewegt er sich auf gefährlich dünnem Eis.

Auch über einige sprachliche Bilder gerät man ins Staunen. Edmunds Bürostuhl beflügelte Walser zu einem Höhenflug der Fantasie, denn der "Stuhl war eine ins Melodramatische gesteigerte Gynäkologie".

Über Sex und Erotik in der Literatur hat es in der jüngsten Vergangenheit eine der heftigsten Auseinandersetzungen in der deutschsprachigen Literaturkritik gegeben. Ob Martin Walser deswegen dieses Thema wie ein schüchterner Quartaner behandelt, der nach wohlklingenden Formulierungen strebt, die letztlich verunglücken? Jedenfalls erfahren wir, dass Susi Gern sich bei der Selbstbefriedigung "wie eine Gitarre" vorkommt und es ihr nicht gelingt, "sich durchs Ziel zu bringen". Dies ist weder Erotik noch Pornographie, sondern bloß verbaler Kitsch.

In ein melodramatisch-kitschiges Szenario lässt Martin Walser die Handlung münden, denn nur bis zur Hälfte des Buches gestattet er den funktionierenden Kreislauf aus Betrügen und Betrogenwerden, aus theatralem Familienspiel und rituellem Wohlstandsgehabe. Dann gibt es einen Handlungscut: die Börsenkurse fallen in den Keller, trotz Edmunds Durchhalteparolen schwindet das Vermögen dahin, die Banken sperren die Konten, schicken Gerichtsvollzieher, ein vermögender Freund, der mit Millionen einspringen wollte, rast mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler und stirbt, Schwiegertochter Ksenija springt nach einem Psychiatrie-Aufenthalt von der Rheinbrücke in den Tod, und Sohn Andreas macht sich (den Untergang des Vaters vor Augen) ausgerechnet als Anlageberater selbständig.

Der Fall der Familie Gern ist damit zunächst nur eingeläutet, denn den Absturz in unermessliche Tiefen zelebriert Walser (sonst eher ein bedächtiger literarischer Symphoniker) mit hämmernden Tönen. Dumpf waltet fortan das Schicksal: Handlungsarmut ist den Walser-Romanen in der Vergangenheit (nicht zu Unrecht) häufig angekreidet worden, aber nun steht man fassungslos vor einer überbordenden Tragikomödie.

Der eitle Edmund erkrankt an Parkinson und zittert sich zunächst noch stolz durch den Alltag. Er siecht dahin, wird zum Bettnässer und lässt sich von Susi in Windeln einpacken, ehe er per Taxi weiter zu seinen Damenbesuchen aufbricht. Die erniedrigte Ehefrau beseitigt derweil die Urinspuren in der Wohnung. Ist dies ein Indiz für den im Titel beschworenen "Lebenslauf der Liebe"? Oder hat Martin Walser das Psychogramm seiner Figuren mit Gewalt in sein Handlungskorsett gezwängt?

Das Vermögen der Gerns wird restlos gepfändet - und Edmund von seinen Qualen erlöst. Das hätte ein passendes Romanende sein können. Doch Susi und Conny müssen noch umziehen - von 390 auf 60 Quadratmeter - und ein völlig neues Leben beginnen. 345 DM Wohngeld und 1.184 DM Sozialhilfe bleiben Mutter und Tochter. Ganz zum Schluss heiratet Susi sogar noch einmal, einen 38 Jahre jüngeren Marokkaner, der auch Conny in sein Herz schließt, die daraufhin in die ihr ureigene, kindliche, rheinische Philosophie verfällt: "Mer blewe zusamm wie Kätzke und Tätzke bes zom Lewejottsdach." Was Susi in der Ehe nicht fand, bietet als Ersatz die Beziehung zu ihrer behinderten Tochter: eine dauerhafte, unerschütterliche gegenseitige Liebe.

Das ist so verwegen konstruiert, dass man die Figuren in der TV-Endlosserie "Lindenstraße" schon um ihre Normalität beneiden kann. Martin Walser hat die vielzitierte 'künstlerische Freiheit' bis an ihre Grenzen ausgereizt. Seine Figuren sind wie Marionetten, die unendlich viel zappeln, aber kaum wechselseitig aufeinander einwirken. Das mutet wie purer Aktionismus eines in die Jahre gekommenen Autors an, der als Regie führender Fädenzieher über allem thront. Dem komplexen und diffizilen Thema Liebe lässt sich so nicht beikommen. Martin Walsers gescheiterter Roman liest sich so dissonant wie der Versuch, mit blecherner Marschmusik und synthetischem Techno romantische Gefühle erzeugen zu wollen.

Zurück bleibt eine Leidensgeschichte - für die Figuren wie für die Leser.

Titelbild

Martin Walser: Der Lebenslauf der Liebe. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
528 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518412701

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