Zu dieser Ausgabe - Fokus Lyrik

Was lässt sich in Erfahrung bringen über den Stellenwert von Lyrik in der Mediengesellschaft, das über die Produzenten- und Rezensentenperspektive, über Lyriknächte und Events in Literaturhäusern und Kultursendungen hinausginge? Wie steht es mit dem bildungsbürgerlichen Glauben an die Unvergänglichkeit der Dichtung, wie mit dem linken Anspruch, Literatur müsse kritisches Bewusstsein schaffen oder könne die Massen mobilisieren? Ist Dichtung - heute - ein "Volksgut"? Jedenfalls startete im Mai 2000 der Westdeutsche Rundfunk in seinen Programmen eine bemerkenswerte Aktion mit der Frage nach dem "Lieblingsgedicht" der Hörer, deren Erfolg eine bange Frage war: Würde es gelingen, die Hörer des Sendegebiets an der Programmgestaltung zu beteiligen, dergestalt, dass sie ihr "Lieblingsgedicht" nennen würden und so einen Kanon der hundert beliebtesten Gedichte der Deutschen stifteten?

Die Sorge, es könne nicht genug Beteiligung geben, das Hörer-Interesse an Lyrik sei gering, das Bedürfnis zur Stiftung eines neuen Kanons nicht ausgeprägt genug, erwies sich als unbegründet. Mit circa 3.000 Einsendungen wurden die Erwartungen der Initiatoren weit übertroffen. Viele Hörer mochten sich nicht auf ein Lieblingsgedicht beschränken. Eine Lehrerin schickte ein ganzes Konvolut - die Lieblingsgedichte ihrer Schüler der 6. Klasse.

Auf die breite Streuung der Einladung, die auch in Form eines gelben Flyers erfolgte, setzten sofort die Rückmeldungen ein und hielten den ganzen Mai über an: auf Postkarten, per Brief und per Anruf, via E-Mail, handschriftlich oder getippt, mit oder ohne Text als Beilage, mit oder ohne Begründung. Etwa 900 Gedichte von knapp 300 Autoren wurden nominiert.

Der Erfolg der Aktion kam nicht von ungefähr, denn die Frage nach dem Lieblingsgedicht wird traditionell immer wieder gestellt: An Insider in Literaturzeitschriften, an Lyriklesende und -produzierende oder als Teil von Prominenten-Fragebögen. Die Beteiligung - auch ohne Gewinnspiel - an einer Hitparade mobilisiert mehr noch als den üblichen treuen Hörerstamm eines Lyrik-Wunschkonzerts und mag als Selbstbestätigung einer Programmsparte dienen.

Das Überraschende dieser Auswahl ist es allenfalls, dass die "Lieblingsgedichte der Deutschen" - zumindest auf den ersten Blick - wenig Überraschendes bieten, sich vielmehr am Bewährten orientieren: Die Lieblingsgedichte der Deutschen sind fast ausnahmslos Klassiker, sind weithin bekannte, nicht nur in den Autoren-Œuvres verbreitete, sondern auch in Schulfibeln, Realienbüchern, Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften vielfach gedruckte, bisweilen vertonte und aufgeführte, schon von den Eltern und Großeltern in deren Schülertagen auswendig gelernte, nicht selten lebensbegleitende Texte, über die sich die Kulturnation lange schon definiert.

Es ging den Initiatoren nicht um Weltliteratur. Eine große Zahl der Einsendungen griff dennoch über die Sprachgrenzen hinaus: Bibeltexte und chinesische Spruchweisheiten wurden ebenso gewünscht wie Gedichte von Shakespeare, Robert Burns, Percy Bysshe Shelley, James Joyce und Dylan Thomas. Dann heutigere wie Giuseppe Ungaretti, Jacques Prévert, Tagore, der von Reiner Kunze übersetzte tschechische Lyriker Jan Skácel, Wislawa Szymborska und die populäre Kanadierin Margaret Atwood. Sie alle konnten ebensowenig berücksichtigt werden wie die Pop-Stars der Literatur: Hier galten die Wünsche unter anderem Jim Morrisson, Phil Collins, Nina Hagen, Depeche Mode, den Böhsen Onkelz und Toten Hosen, Sabrina Setlur und Eddie Vedder von Pearl Jam. Immerhin machen diese Nominierungen deutlich, dass Songtexte durchaus als Lyrik wahrgenommen werden und einen lebendigen Kanon stiften könnten. Und weshalb auch nicht: Bob Dylan gilt seit Jahren als Anwärter für den Nobelpreis, und 1999 wurde er von Juroren der Zeitschrift "Das Gedicht" unter die hundert wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts gewählt - mit Platz 39 rangiert er noch weit vor Gottfried Benn. Dylan hat mit seinen Texten zu Millionen gesprochen, er gilt als die Stimme der Protestgeneration und Neuschöpfer des "Songs", viele seiner Verse sind sprichwörtlich geworden.

Die Zeitschrift "Das Gedicht" ist eine der interessantesten Neugründugen der letzten Jahre. Hier sind nicht nur große Namen mit Texten vertreten, sondern hier dürfen auch Laien ihre Gedichte publizieren. Herausgeber Anton G. Leitner bietet sogar einen eigenen Lektorats-Service an, von dem sich Lyriker Gutachten einholen können: "Kurzgutachten" kosten 110 Mark, "Kreativgutachten" 130 und "Analysen" 190. Daneben werden "Lyrikwerkstätten" mit folgenden Programmpunkten angeboten: "Diskussion eigener Gedichte"; "Lektoratsgespräche"; "Kreatives Schreiben"; "Praktische Tipps von Profis"; "Literaturbetrieb aktuell". Die Preise liegen bei 280 Mark (ohne Unterkunft) und 480 Mark (mit Kost und Logis). Wer hier auffällt, kann vielleicht auch bei Leitner publizieren, zum Beispiel in der hauseigenen edition DAS GEDICHT.

Zum Lyriker ernennt man sich selbst, von einer kreativen Lyrikwerkstatt konnten wir bislang nur träumen. Doch eine so aus der Taufe gehobene Publikation bedeutet zunächst einmal wenig. Die Verkaufserwartung bei Laienlyrik dürfte weit unterhalb der Enzensbergerschen Konstante (1.354 Exemplare) liegen, die Lesererwartung noch einmal deutlich darunter. Für manchen mag es ein Albtraum sein, was da so alles gedruckt wird, und es wird ihm sinnvoll erscheinen, dass der materiale Kanon der für bedeutend erachteten Dichtung kaum jemals erweitert wird. Im Gegenteil: Nach der Hereinnahme neuer Schreibweisen und Textsorten und der Formulierung neuer, auch außer-ästhetischer Kriterien (Stichworte Verständigungstexte, Literatur der Arbeitswelt, Dokumentarliteratur) in den sechziger und siebziger Jahren ist wieder eine Rückbesinnung auf einen Kernbereich der Literatur erfolgt. Dieser Kern widersteht bis heute dem Diffusionsdruck neuer Lyrik mit bemerkenswerter Festigkeit - eine Bestätigung für alle jene, die der gegenwärtigen Lyrik eine spezifische Strukturschwäche attestieren.

Zur Laienlyrik gesellt sich die Laienkritik. Sie hat vor allem im Internet ihren Auftrittsort. Da gibt es Adressen, die wie virtuelle "Schwarze Bretter" funktionieren, wo jeder zur Kritik eingeladen ist, oder 'Zeitschriften', die ausschließlich Verrisse veröffentlichen. Und so manche private Homepage bietet Einblick in das, was die Leute so lesen. Der umfangreiche Lyrik-Schwerpunkt dieser Ausgabe von literaturkritik.de wurde zum Teil von Studierenden der Philipps-Universität Marburg erarbeitet und gestaltet - Laienkritik eigener Art. Wir wünschen unseren Lesern eine angenehme Sommerlektüre.

Die nächste Ausgabe von literaturkritik.de erscheint am 1. September