Im Schatten des Meisters

Die geheime Geschichte des Doktor Riemer, erzählt von Werner Liersch

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor Lotte in Weimar steht er mit "etwas hervorquellenden Augen, einer geraden, fleischigen Nase und weichem Munde, um den ein etwas verdrießlicher, gleichsam maulender Zug liegt, schiefem Kopf, bemühten Rindsaugen, großen, weißen Händen" - Friedrich Wilhelm Riemer, wie ihn Thomas Mann porträtiert hat. In der Zeichnung von Hofmaler Schmeller sitzt Riemers Kopf gleich auf den Schultern und duckt sich in den hohen Kragen des Überrocks, als wolle der Mann sich verbergen. Doch wovor? Vor der Gesellschaft? Dem Leben? Sich selbst?

"Goethes Doppelgänger" ist die Rekonstruktion der Lebens- und Wirkungsjahre des Friedrich Wilhelm Riemer in Weimar, der im September 1803 als junger Philologe die Mansarde am Frauenplan gleich über dem blauen Zimmer bei Goethe bezieht und für die nächsten knapp dreißig Jahre nicht mehr von Goethes Seite weichen wird. Angestellt zunächst als Hauslehrer für Goethes Sohn August, avanciert er schon bald zum Sekretär des Vaters, wird zum Vertreter des goethischen Geistes. Er lernt die Unterschrift seines Herrn nachzumachen, Briefe für ihn zu verfassen "und allerlei Geschriebenes mehr, das Goethes Namen trägt". "Riemer traut sich Goethe zu. Er hat ihn lange genug geübt", urteilt Liersch über sein Verhalten.

Bis zum Tode des Geheimrats bleibt Riemer dessen Vertrauter, Sekretär, Redakteur, Korrektor und philologischer Freund. Er ist "dem Meister hingegeben" und ihm zudem in vielen Dingen sehr ähnlich. Riemer, der späte Ehemann, Philologe, Weimarer Gymnasialprofessor, der Großherzoglich Sächsische Bibliothekar, im Alter auch Geheimrat, ebenfalls bekannt durch einen Mangel an Selbstbeherrschung und ständig wiederkehrende Anfälle von übler Laune. Unter dem Pseudonym Sylvio Romano übt sich Riemer in Gedichten im Goethe-Stil. Auch für ihn ist Weimar Hort seines Lebens geworden.

Doch Riemer ist kein Doppelgänger, kein Gegenspieler Goethes. Im Gegenteil: Auch wenn die Beziehung zu Goethe nicht immer ganz harmonisch verläuft, so findet er in ihm erst die Anerkennung, die er sucht. In sein Tagebuch notiert Riemer: "Er ist doch der einzige, durch den ich mich geschmeichelt fühle, selbst wenn er mich benutzt. Denn die anderen, unfähig mich zu schätzen und zu beurteilen, benutzen mich nicht mal". In einer anderen Tagebuchaufzeichnung heißt es: "Warum gibt uns ein einziger großer Mensch solche Freude, ja Wonne? Warum wiegt er uns Tausende auf? Weil er es ist, der zum ersten Mal die Idee vom Menschen erfüllt, und alle übrigen nur als Mißrätnisse, als citra et infra jener Idee erscheinen." Doch Riemer kennt auch den Preis, den er für ein Leben mit Goethe zu zahlen hat. Er hat einen Pakt geschlossen. "Er hat sich eingelassen, mit Goethe zu steigen und zu sinken. [...] In jedem der Pakte zahlt die Kreatur für den Genuss seiner Existenz mit der eigenen. Riemer ist nicht blind, wie die Rollen verteilt sind. Nur, er hat sie angenommen."

Riemers Beurteilung von Goethe lautet im November 1830: "Für den Mächtigsten halte ich den, der die anderen am meisten genirt, der am meisten die anderen ärgern kann, der ihnen am meisten Unangenehmes erzeigen kann, der ihre Freiheit am meisten einschränkt, der da macht, daß sich alles nach ihm bequemt. Goethe hat mich und uns andere was ehrliches geärgert. Er hat uns in unserem Wesen auf alle Weise eingeschränkt. Wir haben uns nach ihm geniren müssen und - setze ich hinzu - auch wollen."

Goethe und Riemer sind Quellen, die einander inspirieren und gegenseitig bedingen. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das Werner Liersch in seiner Biographie anhand von alten Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Kommentaren rekonstruiert hat. Doch es handelt sich hierbei nicht um eine klassische Biographie über die Persönlichkeit Riemers, als vielmehr um eine Biographie über die Beziehung zwischen Riemer und Goethe und das Weimar ihrer Zeit. Die beiden Leben sind miteinander verkettet. Da tauchen gleichermaßen Personen auf wie Johanna Christiane Sophia Vulpius, August von Goethe, Carl August Herzog von Sachsen-Weimar, Konsistorialrat Herder, die Baronin von Stein und das Ehepaar Humboldt, als auch politisch-geschichtliche Ereignisse der Weimarer Jahre. Der Riemer-Original-Ton ist hierbei die Substanz, authentische Zeitgeschichte kommt in Riemers Texten und den Zitaten seiner Zeitgenossen zum Vorschein.

Ein rundum gelungenes Porträt, wie es der Literaturwissenschaftler, Journalist und Autor Werner Liersch nicht besser hätte entwerfen können.

Titelbild

Werner Liersch: Goethes Doppelgänger. Die geheime Geschichte des Doktor Riemer.
Verlag Volk & Welt, Berlin 1999.
396 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3353011498

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