Soziale Situation und innere Welt

Nancy J. Chodorow über die Macht der Gefühle

Von Julia EstorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Estor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem Buch "Die Macht der Gefühle" wagt Nancy J. Chodorow den Versuch, die intrapsychische mit der intersubjektiven Dimension in der Psychoanalyse zu verknüpfen. Bezugnehmend auf die revolutionären Erkenntnisse namhafter analytischer Kritiker wie Melanie Klein, Erik H. Erikson, Herbert Marcuse und Hans W. Loewald beleuchtet die Psychoanalytikerin das Zusammenwirken zwischen intersubjektivem Selbst und der inneren Welt der Phantasien, Wünsche und Ängste, der Übertragung, Projektion und Introjektion, also der unbewussten, verdrängten Inhalte des psychischen Apparats, die trotz - bzw. aufgrund - ihrer Latenz und der damit verbundenen spezifischen Energie Macht auf und über unser Leben ausüben.

Es geht Chodorow in erster Linie um die Macht der verhüllten, dem Bewusstsein nicht zugänglichen Gefühle und Imaginationen. In diesem Rahmen entwickelt sie zunächst ein Konzept der persönlichen Bedeutungsschaffung. Ihre Grundannahme hierbei ist, dass Bedeutung sowohl mit den dynamischen Prozessen der psychischen Innenwelt als auch mit denen der Außenwelt in Verbindung steht: "Bedeutung ist eine unauflösbare Mischung soziokultureller und historischer Verortung einerseits und persönlicher Psychodynamik und Geschichte andererseits". Analog zu dieser Begriffsbestimmung versteht die Autorin die Psychoanalyse als eine Theorie der Entwicklungsformen individueller Bedeutung und unbewusster psychischer Realität. Chodorow akzentuiert in diesem Kontext die biologische Veranlagung der menschlichen Fähigkeit, unbewusste Bedeutungen herzustellen, also die 'Prädestination' für Übertragung, Projektion, Introjektion und unbewusster Phantasie. Das Übertragungsphänomen in der psychotherapeutischen Beziehung beansprucht dabei ein besonderes Augenmerk, vor allem die historischen Entwicklungslinien des Übertragungsbegriffes seit der Freudschen Mutter- bzw. Vaterübertragung. Inzwischen wird in erster Linie die therapeutische Begegnung sui generis erforscht, d. h. infantile Ambivalenzbeziehungen stehen nicht mehr im Mittelpunkt der Interpretation von Übertragungssituationen. Die Autorin sieht die Manifestationen von Übertragung als eindrückliche Dokumentation der Macht der Gefühle. Sie erläutert, dass sich durch Übertragung nicht nur unbewusste Emotionen manifestieren, sondern diese psychische Leistung gleichsam impliziert, dass der Vorgang der Projektion und Introjektion innerhalb eines interpersonellen Rahmens stattfindet. Die Gefühle werden somit wiederum in der intersubjektiven Dimension, in der sich das Selbst und die anderen begegnen, offenbar. Diesen Aspekt führt Chodorow weiter aus, indem sie die Universalität von Übertragung apostrophiert: In jeder emotional besetzten Beziehung kommt es zu Übertragungsprozessen.

Diese neuerliche Relevanz der Übertragungsprozesse führt zwangsläufig zu einer Neubewertung der frühkindlichen Erfahrungswelt als Einflussfaktor auf die Erwachsenenpsyche als auch der damit verbundenen Beziehung zwischen vergangenen und gegenwärtigen Lebensbedingungen in der theoretischen wie auch der klinischen Psychoanalyse. So tritt auch Chodorow dezidiert für eine Neukonzeptualisierung von Kindheit ein: weg von phasenbezogenen Deutungsschemata, hin zu prozesshaft orientierten und kontextabhängigen Erklärungsmodellen.

Diese Abkehr von generalisierenden Erklärungsansätzen ist auch innerhalb ihrer Auffassung von geschlechtsspezifischen Bedeutungszusammenhängen evident: Jeder Mensch entwickelt sein eigenes individuell-kulturelles Geschlecht jenseits der stereotypen Geschlechterkonstrukte. Die lebenslange Konstruktion von persönlichen emotionalen Bedeutungszusammenhängen ebenso wie die vorherrschenden kulturellen Werte und Bedeutungen unterstützen hierbei die individuelle Konsolidierung einer geschlechtsgebundenen Subjektivität: "Im Geschlechtsempfinden verschmelzen psychodynamisch und idiosynkratisch entstandene persönliche Bedeutungen der inneren Welt mit kulturellen Bedeutungen der äußeren Realität". Es lässt sich generell eine manifeste Interdependenz von kulturellen Themen einerseits und Selbstzuständen und Gefühlswelten andererseits konstatieren: "Eine psychologische Kraft treibt die Erfahrung kulturell wahrgenommener Emotionen an, so wie die Kultur zur Prägung des emotionalen Lebens beiträgt".

Der Individualität nun einen zentralen Stellenwert in der analytischen Wissenschaftsdisziplin einzuräumen, würde gleichsam bedeuten, die Psychoanalyse als eine Theorie persönlicher Bedeutung weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen und sie auf diese Weise der simplifizierenden Zuschreibung als eine Methode der Behandlung psychoneurotischer Symptome peu à peu zu entheben.

Chodorow gelingt es auf elegante und vor allem überaus plausible und transparente Weise, den sozialisationstheoretischen Antagonismus zwischen psychischer 'Innenansicht' und der erkenntnisleitenden Analyse der äußeren Konstitutionsbedingungen zu vereinen und in ihrer komplexen Interdependenz zu beleuchten. Ihre interdisziplinäre Programmatik macht zudem deutlich, wie eng - geradezu unlösbar - die Psychoanalyse mit den ihr verwandten Sozialwissenschaften verflochten ist. So illustriert die Autorin, inwiefern unter epistemologischen Gesichtspunkten eine 'kooperative Beziehung' zwischen Psychoanalyse, Kultur- und Sozialwissenschaften für eine umfassende Analyse vonnöten ist. Ihre mehrdimensionale Betrachtungsweise in Form einer differenzierten Theorieverbindung, welche die innere und die äußere Realität als konstitutive Elemente der individuellen Subjektwerdung begreift, ist als ein eminenter Fortschritt innerhalb der Sozialisations- und Geschlechterforschung zu werten. "Kann es sowohl Kultur als auch Psychologie geben", fragt sie "oder müssen wir uns zwischen beiden entscheiden?" Bereits während der Lektüre dieses sehr verständlichen und - trotz der zugegebenermaßen großen Theorielastigkeit - anregenden Buches wird bei vielen Lesern die Einsicht und die feste Überzeugung entstehen, dass die Notwendigkeit besteht, eine Synthese unterschiedlicher Wissenschaftsrichtungen herbeizuführen, um auf diese Weise ein einheitswissenschaftliches Paradigma zu entwerfen, das den komplexen und hochdifferenzierten intra- und interindividuellen Realitäten gerecht zu werden vermag. Man ist überzeugt, dass diese - gewissermaßen 'kontextualistische' - Sichtweise und Analyseebene auch realisierbar ist. So ist Chodorows "Die Macht der Gefühle" auch die Dokumentation einer äußerst konsequenten und nachvollziehbaren Umsetzung einer "Haltung des Sowohl-Als-Auch", die vor allem im Rahmen der psychoanalytischen Verstehensweise und Theoriebildung noch nicht oft gewagt wurde und nicht zuletzt aus diesem Grund eine höchst lohnende Unternehmung darstellt.

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Nancy J. Chodorow: Die Macht der Gefühle. Subjekt und Bedeutung in Psychoanalyse, Geschlecht und Kultur.
Übersetzt aus dem Englischen von Petra Holler.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart / Berlin / Köln 2000.
299 Seiten, 28,50 EUR.
ISBN-10: 3170164953

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