Wenig christliche Nächstenliebe für Juden

Evan Burr Bukey untersucht das Meinungsklima in "Hitlers Österreich”

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Thema "Österreich im Nationalsozialismus" wird in der öffentlichen Diskussion zumeist relativ undifferenziert begegnet. Während sich viele Österreicher - wie unlängst Bundeskanzler Schüssel - auf die 1943 von den Alliierten veröffentlichte Moskauer Erklärung berufen, der zufolge Österreich das "erste Opfer" der nationalsozialistischen Expansion gewesen ist, sieht man in der Bundesrepublik oft in ähnlich apologetischer Absicht die Österreicher als die "wahren Nationalsozialisten" an - schließlich war auch Hitler Österreicher. Da ferner im Vergleich zu Deutschland weitaus weniger Literatur über die nationalsozialistische Epoche in Österreich existiert, ist Evan Burr Bukeys Studie in mehrfacher Hinsicht von Belang.

Der an der University of Arkansas lehrende Historiker, unter anderem Autor einer "Politik- und Sozialgeschichte von Linz 1908-1945" (1986), verfolgt einen mentalitätsgeschichtlichen Ansatz: Auf der Basis von Berichten der Leitstellen des Sicherheitsdienstes sowie von Landräten und Justizbehörden möchte er die "Volksstimmung" im nationalsozialistischen Österreich rekonstruieren. Diese "kollektiven Einstellungen der Gesellschaft" grenzt er von der "öffentlichen Meinung" als der Überzeugung einer politisch bewussten Minderheit ab.

Die sehr gut lesbare Studie gliedert sich in drei Teile: Zuerst zeichnet Bukey knapp Österreichs "Weg zum Großdeutschen Reich" nach, anschließend stellt er die Situation und das Verhalten von österreichischen Nationalsozialisten, Arbeitern, Katholiken, Bauern und Juden zwischen Anschluss und Kriegsbeginn dar. Der letzte Abschnitt behandelt die teilweise drastischen Stimmungsschwankungen der Österreicher während des Zweiten Weltkriegs.

Obwohl die Nationalsozialisten in Österreich seit der Weltwirtschaftskrise beständig Anhänger gewannen und die Idee eines eigenständigen Österreichs durch die Politik der christlichsozialen Diktatoren Dollfuß und Schuschnigg immer weiter an Popularität verlor, hält Bukey es für unwahrscheinlich, dass Wahlen eine nationalsozialistische Mehrheit ergeben hätten. Jedoch seien auch viele Christlichsoziale und vor allem Sozialdemokraten aus unterschiedlichen Motiven für den Anschluss eingetreten.

Die Begeisterung für den Nationalsozialismus schwankte von Bundesland zu Bundesland; besonders groß war sie in Kärnten und der Steiermark. In Graz, der "Stadt der Volkserhebung", wehten bereits im Februar 1938 die Hakenkreuzfahnen vom Rathaus - auch in der "Ostmark" wurde frühzeitig "dem Führer entgegengearbeitet" (Ian Kershaw).

In Wien ereigneten sich hingegen die heftigsten antisemitischen Gewalttaten, die - im Gegensatz zu den Bundesländern - nicht nur von Parteiaktivisten, sondern auch von vielen "gewöhnlichen" Wienern verübt wurden. Dies soll indessen nicht den Antisemitismus außerhalb Wiens relativieren; für ganz Österreich konstatiert Bukey einen "starken antisemitischen Konsens" - eine These, die er in seiner Studie immer wieder aufgreift. Der Antisemitismus habe "viel stärker als im Altreich das integrative Element für die NS-Herrschaft" gebildet. Daher sei die "Twisted Road to Auschwitz" (Karl A. Schleunes) in Österreich auch weniger kurvenreich verlaufen, sondern "sorgfältig vermessen, geplant und angelegt" worden. Bukey führt viele überzeugende Argumente für die Existenz des antisemitischen Konsenses an, der in der Ostmark sicherlich von anderer Intensität war als im "Altreich". Bezüglich der Genese der "Endlösung" belässt er es allerdings bei der genannten Behauptung, ohne sie weiter zu belegen. Zweifellos wünschten viele Österreicher eine "Lösung der Judenfrage", ob sie dabei allerdings an den später durchgeführten Massenmord dachten, darf bezweifelt werden.

Auch in anderen Bereichen unterschied sich der österreichische vom deutschen Teil des Großdeutschen Reiches. Die Bauern erwiesen sich als weitaus weniger pro-nationalsozialistisch als in Deutschland - möglicherweise spielte hier das konfessionelle Element eine Rolle, da ja die Nationalsozialisten in Deutschland vor allem in protestantischen agrarischen Gebieten erfolgreich waren.

Gleichwohl schlossen sich der katholische Glaube und eine nationalsozialistische Überzeugung nicht aus. Das Verhältnis vieler Katholiken zum Nationalsozialismus war vielmehr ambivalent: Einerseits protestierten sie vehement gegen dessen - ohnehin kontraproduktive - antikirchliche Kampagnen, andererseits befürworteten sie manche der staatlichen Maßnahmen wie die Einführung der Zivilehe oder die Reform des Scheidungsrechts. Ferner zeigten sie "teuflisch wenig christliche Nächstenliebe für nichtgetaufte Juden". Interessanterweise vertiefte die Politik der Anbiederung an das NS-Regime, welche die Kirchenführung unter Kardinal Innitzer bis zum Kriegsende praktizierte, die Kluft zwischen dieser und dem niederen Klerus.

Parallelen zwischen der "Ostmark" und dem "Altreich" ergaben sich hinsichtlich der teilweise extremen Stimmungsschwankungen, die entweder auf die militärische Lage oder die Lebensmittelversorgung zurückzuführen waren. Wie die meisten Deutschen trennte auch die Mehrheit der Österreicher ziemlich konsequent zwischen den NS-Funktionären, die für sämtliche Probleme verantwortlich gemacht wurden, und dem Führer, zu dem sie "eine außerordentlich starke emotionale Bindung" aufgebaut hatten. Zwar wuchs im Verlauf des Krieges die antideutsche Stimmung, aber dennoch blieben die meisten Österreicher von der Notwendigkeit des Anschlusses überzeugt.

Selbst nach der Moskauer Erklärung, von den Alliierten zur Stärkung des österreichischen Widerstands - und nicht etwa aufgrund der historischen Tatsachen - abgegeben, sei der österreichische Patriotismus und die aus Legitimisten und Kommunisten bestehende Opposition kaum gewachsen, ein Umstand, den Bukey auf die anhaltende Unterstützung Hitlers durch die katholische Kirche zurückführt.

Trotz Apathie und Resignation habe erst die militärische Niederlage ein Umdenken bewirkt - nicht etwa hinsichtlich der Haltung gegenüber den Juden, sondern weil aus der "Schicksalsgemeinschaft" der nichtjüdischen Österreicher eine "Leidensgemeinschaft" geworden sei. Die Nachkriegsentwicklung streift Bukey indes nur kurz; hier urteilt er insgesamt zu milde. Kein Wort verliert er über die beschämende Haltung vieler Nachkriegspolitiker von SPÖ und ÖVP zur sogenannten "Wiedergutmachung". Auch hält er die Reaktion der Österreicher auf den jahrelangen Streit um Kurt Waldheim für nicht eindeutig feststellbar. Ein Blick auf Kommentare und Leserbriefe österreichischer Zeitungen von "Krone" bis "Presse" hätte jedoch verstärkte antisemitische Ressentiments erwiesen.

Diese Einwände können den positiven Gesamteindruck freilich nicht trüben: Mit "Hitlers Österreich" legt Bukey eine profunde Studie vor, die gleichermaßen durch ihre differenzierte Argumentation wie durch klare Urteile besticht. Wer sich künftig mit dem Nationalsozialismus in Österreich beschäftigt, wird an Bukey kaum vorbeikommen.

Titelbild

Evan Burr Bukey: Hitlers Österreich. Eine Bewegung und ein Volk.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Norbert Juraschitz.
Europa Verlag, Hamburg/Wien 2001.
416 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3203755750

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