Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus

Zum dritten Band von Ulrich Schreibers wegweisendem Opernführer

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die meisten neueren Musikführer sind als Gemeinschaftswerke konzipiert. Bücher wie der von Attila Csampai und Dietmar Holland herausgegebene "Konzertführer" oder der von Ingeborg Allihn zusammengestellte "Kammermusikführer" sind gerade dadurch nützlich und anregend, dass Spezialisten die ihnen nahestehenden Komponisten und Werke auf je eigene Weise vorstellen. Ulrich Schreiber wagt es dagegen alleine, einen auf vier Bände konzipierten "Opernführer für Fortgeschrittene" vorzulegen, der zudem noch im Untertitel eine "Geschichte des Musiktheaters" zu sein verspricht.

Wie in den ersten beiden Teilen ist dieses anspruchsvolle Unternehmen auch im nun vorliegenden dritten Band gelungen. Er umfasst, wie ein weiterer Untertitel andeutet, die Zeit von "Verdi und Wagner bis zum Faschismus". Man muss das wörtlicher nehmen als es zunächst vielleicht klingt: Tatsächlich geht es ausschließlich um die deutsche und italienische Oper nach Wagner und Verdi, wobei das deutsche Musiktheater etwa zwei Drittel der 770 Seiten einnimmt. Die nationalen Schulen im späten 19. Jahrhundert, die musikdramatisch teils erheblich über Verdi hinausgehen, sind im bereits 1991 erschienenen zweiten Band vorgestellt. Im letzten Band dürften dann Entwicklungslinien vor 1945 beleuchtet werden, die keineswegs randständig sind: das französische Opernschaffen von Debussy bis zur Groupe des Six, die russisch-sowjetische Tradition bis Schostakowitsch und Prokofjew, das solitäre Werk Janáceks, um nur die wichtigsten Lücken anzudeuten, die der dritte Teil noch offenlässt.

Von einer Methode Schreibers ist, zum Vorteil des Bandes, nicht zu sprechen. Durchgehend fehlt, was ältere Opernführer ausmacht, nämlich die detaillierte Wiedergabe einer Handlung - "für Fortgeschrittene" ist dies Buch auch, weil die Darlegungen die Kenntnis zumindest der im Repertoire verankerten Werke voraussetzen. Das gilt besonders für die zwei Kapitel, die fast monographisch den beiden jüngsten Repertoirestützen gewidmet sind, Giacomo Puccini und Richard Strauss.

Schreiber zeigt hier und auch sonst das Besondere der Werke, indem er je verschiedene Ansätze wählt. Im Zentrum stehen die dramaturgischen und musikalischen Qualitäten der Werke - zuweilen aber auch ihre Mängel. Schreiber begnügt sich nicht damit, die Opern indifferent abzuhaken. Er wertet pointiert, stets begründet, anregend auch in den wenigen Fällen, in denen der Rezensent zu einem anderen Ergebnis käme.

Anschaulich werden die Einzelwerke nicht zuletzt deshalb, weil Schreiber verdeutlicht, dass sie auch ganz anders sein könnten. Er bezieht die Entstehungsgeschichten der Werke ein und erörtert vielfach das Verhältnis verschiedener Fassungen auch da, wo sich im Aufführungsbetrieb nur eine Version durchgesetzt hat. Auf diese Weise verfremdet er das scheinbar Vertraute und lässt es als Erklärungsbedürftiges erst ins Bewusstsein treten.

Der Blick auf Überarbeitungen verweist auf die Rezeption: Neufassungen entstanden häufig ja dann, wenn das Publikum ablehnend reagierte. Auch durch die Aufführungsgeschichte löst Schreiber seinen Anspruch ein, mittels der Darstellung von Werken Operngeschichte zu schreiben. Er nennt nicht nur die wichtigsten Interpreten, sondern skizziert auch die Regiekonzeptionen prägender Wiederaufführungen gerade weniger bekannter Werke. Operngeschichte ist der Band also in dreifachem Sinn: als Werkgeschichte, als Rezeptionsgeschichte und gerade dadurch auch als Gesellschaftsgeschichte: denn vielfach befasst sich ja das moderne Regietheater mit dem historischen Gehalt der Werke.

Dieser historische Gehalt ist vielfach politisch. Die ganze Gattungsgeschichte hindurch ist Oper kein Refugium ästhetizistischer Stimmenfetischisten, sondern verhandelt in stilisierter Weise häufig gesellschaftliche Konflikte. In besonderer Weise ist die Oper in den unterschiedlichen Faschismen, die dieser Band vorstellt, mit Politik verbunden. Bekanntlich war die Kulturpolitik im italienischen Faschismus durch eine erheblich größere Offenheit gegenüber avantgardistischen Stilen gekennzeichnet als die des deutschen Faschismus. Insofern gerieten italienische Musiker kaum je in eine grundsätzliche Opposition zum Regime. Fast alle namhaften Komponisten produzierten früher oder später Werke, die zumindest für eine Deutung im Sinne Mussolinis offen waren.

Anders verhielt es sich in Deutschland. Schreiber demonstriert überzeugend, wie reich und vielfältig das Opernschaffen der Weimarer Republik war. Fast alle wichtigen Komponisten dieser Zeit aber wurden 1933 aus politischen, ästhetischen oder rassistischen Gründen ins Exil gezwungen; für die deutsche Musikgeschichte bedeutet der Faschismus einen viel wichtigeren Einschnitt als für die italienische. Wer in Deutschland blieb, produzierte keine direkte Propaganda - der Oper wie zunehmend auch dem Theater war im faschistischen Deutschland in bewusstem Gegensatz zur Zeitoper oder auch dem Zeitstück der Weimarer Zeit die Funktion zugeschrieben, vorgeblich überzeitliche Werte zu vermitteln. Dieser Aufgabe allerdings widmeten sich die Komponisten, die geblieben waren, mit großer Entschlossenheit. Schreiber zeigt die Bedeutung der heroischen Kriegsoper "Friedenstag" für das Werk Richard Strauss' und folgt auch nicht den Widerstandslegenden so prominenter Komponisten wie Carl Orff und Werner Egk. Der häufig verwendete Begriff der "Inneren Emigration" passt unter den Opernkomponisten wohl nur auf Karl Amadeus Hartmann, der konsequent Aufführungen seiner Werke in Deutschland 1933 bis 1945 untersagte. Die letzten Abschnitte des Bandes sind dann den Opern Victor Ullmanns gewidmet, dessen "Kaiser von Atlantis", eine Parabel auf den Faschismus, in Theresienstadt entstand, kurz bevor der Komponist nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet wurde.

Ein entscheidendes Kriterium für einen Musikführer ist sein Gebrauchswert. Schreiber erhebt nicht den Anspruch, mit seinem Werk der eiligen Orientierung vor dem abendlichen Opernbesuch zu dienen, und empfiehlt in einer Vorbemerkung die Lektüre ganzer Kapitel. Diesen Rat sollte befolgen, wer alle Zusammenhänge nachvollziehen will; Inhaltsverzeichnis und darüber hinaus ein ausführliches Register der erwähnten Opern ermöglichen dennoch auch eine kursorische Orientierung. Schreiber erspart seinen Lesern nicht die Fachterminologie, die freilich notwendig ist, wenn präzise über die Sache zu reden ist. Ein allgemeinverständliches Glossar liefert die notwendigen Übersetzungen. Zitate sind - in Musikführern leider keine Selbstverständlichkeit - nachgewiesen und geben so Hinweise auf weitere Lektüre. Auch in solch scheinbar äußerlichen Aspekten ist Schreibers Werk vorbildlich.

Titelbild

Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert I: Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus.
Bärenreiter Verlag, Kassel 2000.
772 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3761814364

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