Die Doppelgesichtigkeit einer Epoche

Wolfram Mauser nimmt "Konzepte aufgeklärter Lebensführung" in den Blick

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fragt man heute nach der Kultur und der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, so wird man immer stärker einer Doppelgesichtigkeit dieser Epoche gewahr. Auf der einen Seite sind die Menschen von einer geradezu euphorischen Aufbruchstimmung geprägt, eine neue, vernünftige Gesellschaft beginnt sich zu formen. Auf der anderen Seite werden die destruktiven Regungen der menschlichen Psyche, werden Aggressionen, Melancholie, Hypochondrie und überbordende Sinnlichkeit als dunkle Seiten des Individuums wahrgenommen und analysiert. Dem Gefühl, neue Entwicklungen voranzutreiben, steht das Gefühl der Stagnation und Ausweglosigkeit gegenüber. Beide Aspekte, deren Gleichzeitigkeit konstitutiv für das frühmoderne Denken sind, kulminieren in der Entdeckung des "ganzen Menschen". Ein Bild vom Menschen prägt sich aus, für das die bestehende Gesellschaftsordnung, die in erster Linie hierarchisch, statisch und antiindividualistisch strukturiert ist, keinen Rahmen mehr abgibt. Von großer Tragweite sind daher die Lösung von religiösen Bindungen und die Hinwendung zum Diesseits. "Glückseligkeit" ist ein Leitwort der Epoche. Nicht jenseitiges Heil erscheint erstrebenswert, sondern ein zufriedenes Leben im Hier und Jetzt. Die "Glückseligkeit" jedes einzelnen sicherzustellen, wird als vordringliche Aufgabe des Staates formuliert. Zugleich wird jedem Einzelnen zugetraut, sein Glück in die eigenen Hände zu nehmen und sein Leben zu gestalten. Die Quellen des Glücks liegen in der Kraft, der Vernunft zu folgen, moralisch gut zu leben und so seine Bestimmung zu erfüllen. Die sinnliche Wahrnehmung ist eine Quelle des Glücks; Genuss, die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse und Sinnenfreude werden als wichtige Qualitäten des Menschseins anerkannt. Was zu einer geglückten Existenz beiträgt, wird deshalb als standesunabhängig und standesübergreifend gedacht, zumal der Begriff "Menschlichkeit" mit Inhalten ausgestattet wird, die nicht an einen bestimmten Stand gebunden sind: Vernunft, Moral, tätige Nächstenliebe, Freude an der Schöpfung, der Natur und an der Erweiterung des Wissens. Die Wahrung von Standesprivilegien steht dem zumindest ideell diametral gegenüber.

In Abgrenzung und Opposition zur höfischen Kultur schafft es eine eigene bürgerliche Kultur, das Bild vom "ganzen Menschen", dessen Glücksanspruch Vernunft, Sinne, Gefühl und Gemüt umfasst, zu etablieren - ein Prozess, der allerdings vielschichtig ist und die Orientierung an adligen Lebensformen ebenso einschließt wie die Verbürgerlichung des Adels. Hieraus entsteht die charakteristische Ambivalenz, die wir eingangs berührten. Der Mensch ist nach diesem Verständnis grundsätzlich mehr, als die Stellung in der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, er ist und braucht mehr, als er durch politische Reformen erreichen und erhalten kann. Die Diskussion der brisanten zeitgenössischen Themen, der philosophischen, poetologischen, literarischen, naturwissenschaftlichen Fragestellungen, bleibt dabei nicht mehr auf einen kleinen Zirkel von "Gelehrten" beschränkt. Vielmehr sucht man einen größeren Leserkreis anzusprechen, sucht die Ergebnisse zu popularisieren. Insofern lässt sich mit einiger Berechtigung von der Ausbildung einer literarischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert sprechen, die sich nicht nur in und durch die gelehrten Zeitungen, sondern auch durch die Etablierung eines spezifischen Literatursystems im 18. Jahrhundert ausbildete. Die Spannung, die zwischen dem "Bürger" und dem Bild vom Menschen besteht, wiederholt sich in der Spannung zwischen der bürgerlichen Existenz eines Menschen und dessen Existenz als "Schriftsteller".

Der Zusammenhang zwischen dem "Schriftsteller" und dem "Gelehrten" kann für viele zentrale Gestalten der Epoche (z. B. Hamann, Herder, Wieland, auch Klopstock) nachgewiesen werden. Vor allem aber gilt Lessing als einer der ersten "freien Schriftsteller" und als Vorbild des geistig unabhängigen Intellektuellen. Von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass er die progressiven zeitgenössischen Sinn- und Glücksangebote auf seine eigene Lebensgestaltung anwendet. Die zentralen Begriffe der zeitgenössischen "Lebensphilosophie" werden aufgegriffen, um die eigene Orientierung auszudrücken: "Vollkommenheit", Übung des Geistes, Erweiterung des Gesichtskreises, Kennenlernen der Natur, moralische Besserung, Fortschreiten in der menschlichen Entwicklung. Auch Freundschaften gewinnen eine herausragende Bedeutung: Geselliger Umgang ist Lessings Lebenselixier und zugleich Zentrum seiner Lebensweise. Andererseits ist Lessing auch ein Beispiel dafür, wie sehr es unter der Oberfläche der Vernunftorientierung in der mittleren und späten Phase der Aufklärung brodelt. Das Zusammenwirken von Erkennen und Wollen wird von der "sinnlichen Natur" des Menschen her in Frage gestellt. Die Körperempfindungen, Triebe, unwillkürlichen Bedürfnisse, Neigungen und Leidenschaften scheinen oftmals auf unüberwindliche Weise die vernünftige Einsicht zu durchkreuzen. Solche Konzeptionen sind in erster Linie "die sinnliche Erkenntnis", der "Geschmack", das "Mitleid", die "Sympathie", der "moral sense" und schließlich der Gedanke der Prädestination, die sich in der deutschsprachigen Literatur und Philosophie wechselweise überlagern. Die ersten drei Begriffe gehören in das Gebiet der Ästhetik, letztere in das Gebiet der Moralphilosophie. Die Bestrebungen, etwas von dem neuen Lebensgefühl in der Literatur sicht- und hörbar zu machen, haben mit der fundamentalen Aufwertung der Sinnlichkeit zu tun, die einen integralen Bestandteil der Aufklärung bildet. Diese ist somit nicht nur als philosophische, sondern vielmehr als gesamtkulturelle Bewegung zu verstehen. Vieles von dem, was philosophiegeschichtlich als "Rehabilitation der Sinnlichkeit" gewertet wird, kann aus literaturwissenschaftlicher Sicht als Symptom der "Empfindsamkeit" interpretiert werden - vor allem der Rekurs auf die Synthese von "Kopf" und "Herz" auf dem Gebiet der Moralität.

Die durchaus verschiedenen Konzepte aufgeklärter Lebensführung, der Anspruch, Vernunft und Gefühl zur Übereinstimmung zu bringen, heben daher oftmals die Zerrissenheit um so schärfer ins Bewusstsein. Irrationale Gefühle werden im theologischen Kontext, wenn sie aggressiv oder selbstzerstörerisch angelegt sind, als "Sünde" erklärt. Die Auslotung der Subjektivität außerhalb des religiösen Kontextes lässt Trauer und Melancholie als abgrundtief und unerklärbar erscheinen. "Empfindsamkeit" als das zentrale Lebensgefühl der Zeit kann zum Synonym für die Versöhnung von "Kopf" und "Herz" werden oder zum Synonym für Hypochondrie, für eine Erkrankung der Seele. Dieser grundlegenden Ambivalenz der Aufklärung haben sich auch die interdisziplinär angelegten, über eine Reihe von Jahren entstandenen und für die neuerliche Publikation gründlich überarbeiteten Untersuchungen Wolfram Mausers, eines ausgewiesenen Experten der Frühmoderne und profunden Lessing-Kenners, zur literarischen Kultur im frühmodernen Deutschland verschrieben. Um ein möglichst breites Spektrum aufgeklärten Selbstverständnisses zu skizzieren, bezieht Mauser Aspekte der Literatur und Philosophie ebenso in die Betrachtung mit ein wie Vorstellungen der Medizin (Diätetik), der Jurisprudenz, der Wirtschaft und der Staatspolitik. Die einzelnen Aufsätze haben ihren Ausgangspunkt in der Annahme, dass "die Autoren der deutschen Aufklärung von etwa 1690 an in einer sich radikal verändernden Welt auf neue Weise über den Menschen nachdachten und die Frage, wie er sein Leben gestalten kann, mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten". In diesem Zusammenhang versteht Mauser Aufklärung als einen Prozess, der sich "nicht mehr auf der Linie der christlichen Eschatologie, sondern auf der des modernen, säkularen Naturrechts" vollzog. Anstelle einer Orientierung am Heil im Jenseits wird nach Mauser die Frage relevant, "wie die 'natürlichen' Bedürfnisse des Einzelnen befriedigt und wie seine Erwartungen mit den Gegebenheiten des Alltags und mit den Machtstrukturen im Staat in Einklang gebracht werden konnten".

Neben der Philosophie und der popularwissenschaftlichen Traktatliteratur, die sich an dem Bedürfnis nach praktischer Anleitung und Lebenshilfe ausrichteten, griff vor allem die Literatur in ihr zunächst fremd erscheinende Bereiche über: in die Bereiche der Naturerkenntnis, der Physikotheologie, der Diätetik, der Moralistik und einer ins Utopische gewandten Lebenslehre. Das zeigt Mauser anschaulich an Untersuchungen zu Barthold Hinrich Brockes, zu Georg Friedrich Meiers 'Apologie des Scherzens', zur Anthropologie der Frühaufklärung, zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung und zum Widerspiel von Moral und Natur in verschiedenen Schriften des 18. Jahrhunderts. Es geht immer wieder um das Vorantreiben eines Wandlungsprozesses und der Schärfung des kulturellen Profils der Zeit. Folglich verwundert es nicht, wenn Mauser der Aufklärungsdichtung zugesteht, Teil einer umfassenden Bewegung zu sein, "die sich auf alle Lebensbereiche erstreckte und diese grundlegend veränderte". Gleichzeitig wird der Blick auf das "Untergründige eines politisch-sozialen Prozesses" gelenkt, wenn die in vielen Texten der Zeit begegnende Forderung untersucht wird, Konflikte und gelehrte Streitigkeiten in einem geregelten Umgang der Menschen (im besonderen natürlich der Gelehrten) miteinander zu lösen oder gemeinsam zu entschärfen, oder wenn Texte daraufhin analysiert werden, wie die Bereitschaft umgesetzt wird, Muster des Egalitären auch in der Beziehung zwischen Mann und Frau anzuerkennen. Erkennbar wird auch der Skopus der Literatur, über neue Wege der Lebensgestaltung nachzudenken, etwa wenn der Gewinn gemessen wird, den der geregelte Streit für die "Entfaltung von Freiheitsräumen" erbringt, oder wenn Geselligkeit, vernünftige Liebe und Freundschaft als "sozialethische Utopien" des 18. Jahrhunderts betrachtet werden, die Entlastung und innere Sicherheit der Staaten zu befördern helfen. Diese sich neu entfaltenden Konzepte der Lebensgestaltung hatten, darauf verweist Mauser zurecht, "jeweils auf ihre Weise teil an dem großen Modernisierungsschub, der an der Schwelle zum 18. Jahrhundert einsetzte". Was sie in erster Linie auszeichnete, war "das Interesse an Formen des Miteinander, die auf den naturrechtlich verankerten Grundsätzen der Gegenseitigkeit und des Vertrauens beruhten".

Am Beispiel Hallers, Uz', Lessings und Wielands schließlich gelingt es Mauser sehr anschaulich zu zeigen, dass dieser Funktionswandel von Dichtung von einem "Legitimations-Diskurs" begleitet war, der die Kompetenz von "Schriftstellern" in Fragen der Lebensgestaltung und -kunde glaubhaft machen sollte. Avant la lettre werden Intersubjektivitätstheorien greifbar, die den Selbstkonstituierungsprozess des Bürgertums bereits in der Frühaufklärung begleiteten. Durch die Öffnung literarischer Analysen im Hinblick auf Fragen der "Lebens-Art" und Lebensführung macht Mauser immer auch auf den oben erwähnten grundlegenden Widerspruch am Beginn der Moderne zwischen der Festschreibung von Rechten und Pflichten einerseits und der Fortschrittssicherung andererseits aufmerksam, oder um es zuzuspitzen: zwischen Tradition, Norm und Innovation, also zwischen dem Eingebundensein in alte, zum Teil jahrhundertealte Ordnungen und der Herausbildung neuer 'Systeme'. Dabei ist das literarische Traditionsverhalten als Abbreviatur zu verstehen, zumal die einzelnen Autoren, so innovativ sie auch sein mochten, naturgemäß erst einmal an den Traditionsbeständen der Zeit partizipierten. Dennoch bildet sich in dieser Epoche, darauf hat vor Mauser schon Wilfried Barner aufmerksam gemacht, "ein neuartiges Neuzeitlichkeits-Bewußtsein heraus, das schließlich zur wichtigen Stütze jener These wird, erst mit dem 18. Jahrhundert setze die eigentliche 'Neuzeit', die eigentliche 'Moderne' ein". Wolfram Mauser ist es zudem eindrucksvoll gelungen, eine andere Ambivalenz freizulegen, indem er zeigt, dass in der literarischen Entwicklung Deutschlands Momente eines Traditionsbruchs zwischen dem frühen und mittleren 17. und dem 18. Jahrhundert, wohl aber eine Kontinuität zwischen dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert zu konstatieren sind. Scheinbar nebenbei werden auch neue Kontexte erkennbar, in denen sich das literarische Leben der Zeit bewegte. Nicht zuletzt dieser Umstand wird dafür sorgen, dass Mausers nun in einem Band gesammelt vorliegende Aufsätze zu einer "Balsam=Kraft" für künftige Arbeiten zur literarischen Aufklärung werden.

Titelbild

Wolfram Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
464 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3826018605

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