Missglückte Fusion

Leo Clemens Schulz' mehr als unausgegorener Beitrag zur Evolutionären Kulturwissenschaft

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leo Clemens Schulz' Buch "Zwischen Staunen und Fürchten" tritt mit dem Anspruch an, die (vermeintliche) Kluft zwischen Natur und Kultur einerseits sowie exakter Wissenschaft und Geisteswissenschaft andererseits durch den Aufweis einer wesentlichen Gemeinsamkeit -- der in beiden Bereichen zu Tage tretenden "Spannung" - zu überbrücken. Die für kybernetische Regelkreise, z. B. den Blutkreislauf, charakteristischen Spannungsfelder - so Schulz - werden am existenziellsten im Schwanken des Menschen zwischen Gesundheit und Krankheit erfahren. Dabei sind beide Leiberfahrungen im Kontext evolutionärer Auseinandersetzungen zu verstehen: im Evolutionsprozess stehen die ,gesunden' Anpassungsleistungen den ,krankhaften' Störfaktoren gegenüber.

Dennoch besitzt die Krankheit, wie Schulz durchaus überzeugend argumentiert, auch einen positiven Aspekt. Zwischen physiologischer Homöostase und chronischem Leiden angesiedelt, fällt ihr die Rolle einer aktiv an der gesundheitlichen Wiederherstellung beteiligten Überlebenshilfe zu. Dieser Widerspruch, Teil und Gegenüber der Natur zu sein, bleibt unauflösbar. Daraus leitet sich die im Titel der Studie geführte Polarisierung der menschlichen Haltungen ab: Als sinnvolles Geschehen müssen wir Krankheiten akzeptieren, als tragische Erfahrung müssen wir sie ablehnen. Für Schulz ist damit auch eine ethische Forderung verbunden, nämlich die nach Mitleid. Ihren sichtbaren Ausdruck, behauptet der Autor weiter, finden die "biopathologischen Prozesse" in der Literatur, Philosophie und Kunst. Insofern wirke die biologische Spannung auch als "Antrieb" der Kultur.

Trotz des hehren Zieles, ,harte' und ,weiche' Wissenschaften einander anzunähern, sind die Schwächen dieses Buches Legion. So lässt sich einer historischen Wandlungen unterworfene Kulturlandschaft kaum eine "gleichbleibende Urnatur der Regelkreise" entgegen setzen, denn diese sind ihrerseits nur das Produkt eines bestimmten wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Auch die "55 literarischen Variationen" von Heraklit bis zu Martin Walser sind nicht ohne Berücksichtung der philosophisch-literarischen Kontexte als Belege biologischer Spannungserfahrungen zu mobilisieren. Selbst dann nicht, wenn sich die Zitate aus den einschlägigen Rowohlt-Monographien über zahlreiche Seiten erstrecken. Und die unbefragt vorausgesetzte "Identität von Autor und Werk" erscheint ebenso wenig plausibel wie die schematisierende Zuordnung der anhand von Stichworten erschlossenen Autoren zu verschiedenen Spannungsmodellen.

Schulz behandelt die Erzeugnisse der Kultur wie naturwissenschaftliche Daten, und genau dies wird ihm zum Verhängnis. Obgleich er bestimmte Differenzqualitäten etwa der Malerei anerkennt, geht er davon aus, dass sich natürliche Gegebenheiten - beispielsweise die Symmetriebrechung, wie sie etwa am Hirn der höheren Säugetiere sichtbar wird - dem Künstler intuitiv und unmittelbar mitteilen. Nachzulesen in den "ausgewerteten 82 Darstellungen der bildenden Kunst". Dadurch aber wird das Kunstwerk zu einem Naturgegenstand depotenziert, zu einem Reflex und Widerschein apriorischer Prinzipien. Neben der schon formal verwirrenden, inhaltlich summarischen und nicht selten simplifizierenden Argumentation fallen insbesondere die begrifflichen Schieflagen dieser Studie ins Auge.

So bezeichnen "Humor" und "Mystik" die Strategien, derer man sich bedient, um der biografisch erfahrenen Spannung Herr zu werden. Aber weshalb finden sich auf derselben Ebene auch "Distanz" und "Harmonie"? "Betroffenheit" wäre doch eher die spannungslose Voraussetzung der Spannung, und "Spannung" selbst der thematische Oberbegriff. Trotzdem siedelt Schulz alles dies auf derselben Ebene an.

Schon diese willkürlich herausgegriffenen Beispiele zeigen, dass sich der Autor nicht auf der Höhe der Diskussion bewegen kann, die heute um den Begriff der kulturellen Evolution geführt wird. Dazu wären u. a. auch zu benennen, wann und inwiefern sich der Zivilisationsprozeß von der Evolution ,abkoppelt' und welche Schwierigkeiten die Übertragung biologischer auf kulturelle Fakten in sich birgt. Zu allem Überfluss bleibt Schulz die Antwort schuldig, in welcher Weise der deskriptive Begriff der biologischen Spannung als "Motivation" präskriptiver Sollensforderungen dient. Denn die Mitleid mit den "Evolutionsopfern" predigende Ethik befindet sich keineswegs in einem nur ,gespannten' Verhältnis zur Natur.

Titelbild

Leo Clemens Schulz: Zwischen Staunen und Fürchten. Biologische Spannung. Eine Brücke zur Kultur.
Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2000.
248 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3487109417

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