Psychoanalyse und Narzissmus

Ernest S. Wolf über „Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie“

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Paradoxon unserer Liebe besteht also darin, daß wir von unseren Geliebten erwarten, daß sie so sein sollen wie unsere Eltern, und gleichzeitig verlangen, daß sie deren Fehler wiedergutmachen“, heißt es in „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ von Woody Allen, dem weltweit vielleicht populärsten bekennenden Neurotiker. Eins von unzähligen Zeugnissen der intensiven geistigen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die, hundert Jahre nach Sigmund Freuds bahnbrechender Entdeckung des Unbewussten und seines Hauptwerks „Die Traumdeutung“, mittlerweile in mehr oder minder verzerrter Form Allgemeingut der westlichen Kultur geworden ist.

Heinz Kohut (1913-1981) gilt als der Begründer der Selbstpsychologie, die als Weiterentwicklung der klassischen Psychoanalyse in den 60er und 70er Jahren entstand. Ernest S. Wolf, gebürtiger Deutscher und in die USA vertriebener jüdischer Psychoanalytiker, war langjähriger Mitarbeiter Kohuts und liefert mit seinem Buch, das erstmals unter dem Titel „Treating the Self“ 1988 veröffentlicht und zehn Jahre später im Suhrkamp Verlag in deutscher Übersetzung erschien, eine grundlegende Darstellung von „Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie“.

Das Konzept der Selbstpsychologie gründet im subjektiven Sich-selbst-Erleben, sich als ein Selbst erleben. So wie die körperlichen Strukturen (z. B. das Blut-, Kreislaufsystem) meist erst bewusst werden, wenn eine Störung (etwa eine Schnittwunde oder Herzrasen) eintritt, so zeigen sich die Strukturen des Selbst bei Gefühlen der Angst, Sorge, Leere, Verzweiflung. Der strukturelle Zusammenhalt ist gestört, das Selbst droht zu fragmentieren – in J. P. Satres „Der Ekel“ in beispielhafter Eindringlichkeit literarisch dargestellt; dagegen ist Wohlbefinden ein Ausdruck von Kohäsion und Ganzheit des Selbst.

Das Individuum erfährt allerdings, dass es im Vakuum nicht existieren kann bzw. dass sein Selbsterleben von anderen, von seiner Umgebung abhängig ist, es ihrer bedarf, gleichwohl es sie fürchtet. Diejenigen Beziehungen zu den sogenannten Objekten, die Erhalt und Stärkung der Selbststruktur gewährleisten, werden als Selbstobjekterfahrungen bezeichnet, um herauszustellen, dass nicht die Beziehung an sich entscheidend ist, sondern die Weise, in der sie erlebt wird, ihre subjektive Funktion. Jede Person ist in ein Netz solcher Selbstobjektbeziehungen eingebettet, das die eigene persönlich erfahrene Welt darstellt. Ein Abschied vom Ideal des autonomen Selfmade-Individuums erscheint zwingend.

Das selbstpsychologische Konzept wurde im Zuge der Narzissmus-Forschung entwickelt, die jenen Komplex seelischer Störungen untersucht, der sich nur kaum den klassischen psychoanalytischen Behandlungsmethoden zugänglich zeigt, die auf dem Freudschen Modell von Ich, Es, Über-Ich und der Verdrängung der Triebe basierten. Schon Erich Fromm stellte die grundlegende Verschiebung der Krankheitsbilder der Patienten fest, die nicht mehr an neurotischen Symptomen, Zwängen, Hysterie, Phobien, sondern an innerer Leere und der Unfähigkeit, Freude und Liebe zu empfinden litten, und erklärte den Narzissmus zur Krankheit unserer Zeit. Wolf fügt hinzu, dass aufgrund moralischer Wertvorstellungen der christlich-jüdischen Tradition auf Seiten der analytischen Wissenschaft Vorbehalte bestanden, ein selbstgerechtes, arrogantes oder rechthaberisches Verhalten als behandelnswerte seelische Not anzuerkennen. Er fordert auf, sich diesem Narzissmus zu stellen und die kulturellen Ursachen für die Zunahme der narzisstischen Störungen (Schrumpfen der Familien, Überbelastung der Eltern, Drogenmissbrauch, etc.) weiter wissenschaftlich zu erforschen.

Wolf gibt präzise Erklärungen zu Einteilungen und Begrifflichkeiten wie den Selbstbedürfnissen, den Selbstobjekterfahrungen, ihren Störungen und den verschiedenen Krankheitsbildern, deren Zentrum immer als eine Schwächung des Selbst verstanden wird. Ebenso weist er auf Verbindungen und gemeinsame Ansätze der Selbstpsychologie mit der klassischen Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie und den Objektbeziehungstheorien hin. Er weiß aber auch um die Gefahren einer Kategorisierung und zeigt deren Relativität.

Im zweiten Teil wird die Behandlung erläutert, in deren Zentrum der Unterbrechungs-Wiederherstellungs-Prozess steht, den die Übertragung und empathische Bindung an den Analytiker durchläuft. Die auf den Analytiker übertragenen Gefühle werden in der Regression intensiver und nähern sich ihrer archaischen Form. Der Patient erlebt, wie diese Bedürfnisse akzeptiert und verstanden werden, aber auch wie sie – erneut – enttäuscht werden. Der Abbruch der Beziehung wird durch die treffende Deutung überwunden, wenn sie in einem verständnisvollen Ambiente gegeben wird, das dem Patienten ermöglicht, die Deutung anzunehmen. In diesen Zyklen schreitet die Analyse voran, ein ostensiver, durchlebter Lernprozess, aus dem das Selbst gestärkt hervorgeht. Nicht die unmögliche nachträgliche Befriedigung von unterdrückten Bedürfnissen – „Liebe ist nicht genug, weil es nie genug Liebe geben kann“ –, sondern die Integration und das Bewusstmachen der Affekte wird von der Analyse geleistet.

Die Realität des Patienten verändert sich. Das wirft die interessante Frage auf, welcher Art „Realität“ im selbstpsychologischen Verständnis ist. Gegen Freud, der eine objektiven Realität als Bezugspunkt vertrat, wird die Interaktion subjektiver Realitäten von Analytiker und Analysand angenommen. Im Erleben der Diskrepanz dieser Realitäten, das sich in einem empathischen, freien, nicht-wertenden Ambiente vollzieht, liegt die Möglichkeit, sich der eigenen Realität bewusst zu werden.

Wolfs Arbeit bietet im Stile eines Standardwerks eine gründliche Einführung in die Selbstpsychologie. Eine klare Gliederung und klinische Fallbeschreibungen unterstützen die gute Zugänglichkeit für Laien, einige der häufigen Wiederholungen hätten vielleicht vermieden werden können. Die Exkurse über das Selbst von Gruppen, die Funktionen deren Führer oder Friedenspolitik weisen auf Bereiche hin, in der die Selbstpsychologie Anwendung finden kann, bleiben aber auf der Ebene von Andeutungen.

Titelbild

Ernest S. Wolf: Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Wolfgang Milch und Iris Hilke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
247 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3518289950

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